Die englische Episode
seine Schuldigkeit getan und tritt nicht mehr auf, sicher kommt Jean gleich.»
«Bist du verrückt? Du kannst nicht glauben, dass er sich den Schlussapplaus und die Verbeugungen entgehen lässt. An der Seite von Mr. Garrick! Würdest du das tun? Außerdem kann er uns hier niemals finden.»
Damit schob sie sich in die Menge und war gleich darauf auf der Treppe verschwunden.
Rosina blieb keine Zeit zu entscheiden, ob sie ihr nachlaufen solle. Wieder drangen vom Foyer heftige Stimmen in den Saal, und Bendix Hebbel beugte sich sogefährlich weit vor, dass Rosina nach seinen Rockschößen griff und ihn festhielt.
«Nichts zu sehen», sagte er, als er sich wieder aufrichtete, «und vielen Dank für Euren Halt. Sicher gibt es nur einen der üblichen Händel beim Entree. Das kommt alle Tage …»
Plötzlich versteifte sich sein Rücken und er starrte mit noch halb geöffnetem Mund zur rechten Seite des Parketts hinunter.
«Seht Ihr das graue Gespenst?», fragte Rosina, aber er hörte sie nicht.
«Dort», rief er, «seht Ihr? Im Parkett auf der rechten Seite, an der Balustrade des ersten Ranges, kurz vor den Logen. Seht Ihr denn nicht?»
«Was denn? Was soll ich sehen?»
Die Kronleuchter waren inzwischen niedergelassen und mit neuen Kerzen versehen wieder hochgezogen worden, auch die zierlichen Kandelaber in den Logen und an den bühnennahen Wänden des ersten Ranges waren neu bestückt. Deshalb war der Theatersaal noch lange nicht hell, doch zumindest die Gesichter nahe bei den Kerzen konnte sie erkennen.
«Da!» Hebbels Stimme war nun angestrengtes Flüstern. «Da unten steht der Mensch, den ich vor der Druckerei gesehen habe. Wie er in der Nacht durch das Tor ging. Versteht doch, der Kloth besucht hat, den Faktor.»
«Wo?» Rosina griff heftig nach seinem Arm. Just an der Stelle, die Hebbel beschrieben hatte, entdeckte sie nun den jungen Dagenskøld, jedenfalls schien er es zu sein, genau erinnerte sie sich nicht mehr an das Gesicht, dessen Jugend noch wenig Charakteristisches zeigte. Er stand neben Eschburg, Graf Alwitz’ schüchternemFreund. Der Dritte, er hatte sich gerade umgedreht und zeigte nur noch seinen Rücken, musste Alwitz selbst sein.
«Meint Ihr etwa einen der drei Männer, die mit einem anderen hinter der Brüstung reden?»
«Ja, der im dunklen Rock, ich erkenne ihn ganz genau, glaubt mir.»
«Ich glaube Euch ja», versicherte Rosina und zweifelte dennoch. Bendix Hebbel musste Adleraugen haben. «Aber sie tragen alle drei einen dunklen Rock. Kommt», rief sie, bevor er zu neuen Erklärungen anheben konnte, griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich die Treppe hinunter. «Der Vorhang zittert schon, gleich geht er wieder hoch, aber ich will den Mann jetzt von nahem sehen», rief sie über die Schulter zu Hebbel zurück, «passt auf, dass er Euch nicht sieht. Am Ende erinnert er sich genauso gut wie Ihr.»
Während sie sich die Treppe hinunterdrängten, wurde der Lärm aus dem Foyer immer lauter und erreichte den Saal, getragen von zornigen Stimmen und gegeneinander gehauenen Degen. Die Kunde von den im Foyer angeschlagenen Zetteln verbreitete sich wie ein Feuer. Im Königlichen Theater an der Drury Lane, war darauf bekannt gemacht, gebe es von morgen an keine halben Preise mehr. Wem es beliebe, erst nach der Pause zu kommen, werde zwar noch eingelassen, jedoch nur um den vollen Preis.
Rosina und Bendix standen auf den Stufen und sahen fassungslos auf die Revolte. Hungrigen Tieren gleich, denen es endlich gelungen war, ihren Pferch zu durchbrechen, drängte und trampelte die Menge zur Bühne, als gelte es, den König zu stürzen und nicht nur gegenneue Theaterpreise zu protestieren. Stimmen schrien und kreischten, wütend, lust- oder angstvoll, wer versuchte, sich aus dem Brodeln zu den rettenden Brüstungen und Treppen durchzuschlagen, wurde mitgerissen. Schon kletterten die ersten Männer über die Barriere in den Orchestergraben, schubsten Stühle und schreckensstarre Musiker zur Seite, staubende Perücken flogen durch die Luft, einer griff eine Violine und schwang sie über dem Kopf wie einen Knüppel, angefeuert von denen, die das tobende Schauspiel aus der sicheren Entfernung des oberen Ranges und der Galerie genossen.
«So kommt doch weiter», schrie Rosina. Egal, was hier passierte, sie konnte sich das Gesicht des Mannes nicht entgehen lassen, den Wagner so hoffnungslos suchte.
«Nein, Rosina!!», schrie Hebbel, «nein, bleibt hier! Sie treten Euch tot.»
«Wenn wir an der
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