Die englische Episode
Brüstung bleiben …», ‹geschieht uns nichts›, hatte sie sagen wollen. Doch da drängte ein Pulk ‹Hal-be Prei-se, hal-be Prei-se› johlender Männer hinter ihnen ins Parterre und zog sie mit. Wütend schlug sie um sich, strauchelte, zog sich an fremden Kleidern wieder hoch, und als sie wie durch ein Wunder die Brüstung des ersten, nur wenig über dem Parkett erhöhten Ranges erreichte, schlug ihr schon die nächste Woge von Körpern entgegen. Zornig suchte sie nach einem Halt an den Schnitzereien, doch die Menge schob sie unerbittlich weiter – bis plötzlich zwei Hände hart nach ihr griffen und versuchten, sie über die Brüstung zu ziehen.
«Verdammt», presste eine angestrengte Männerstimme hervor. «Ihr seid schwerer, als Ihr ausseht. Wenn Ihr ein wenig mithelfen könntet …»
Doch da war sie schon über die Brüstung gezogen, zerzaustund eine blutige Schramme auf der Stirn, mit zerrissenem Rock und nur mehr einem Schuh.
«Das war knapp», sagte ihr Retter kalt, «wie konntet Ihr so verdammt dumm sein, Euch in diese tobsüchtige Horde zu wagen.»
Rosina starrte ihn an und wusste, wo sie war. Genau bei den Plätzen, bei denen erst wenige Minuten zuvor die Männer gestanden hatten, auf die Hebbel gezeigt hatte und die nun verschwunden waren. Nur einer war noch da, der vierte Mann im Hintergrund. Magnus Vinstedt. Der hatte sie wie einen Fisch aus der Brandung gezogen. Es war zu dumm, dass ausgerechnet jetzt Titus auftauchte, gleich nachdem Vinstedt sie aus dem Theateraufruhr gezogen hatte. Er hatte sie in der Menge untergehen sehen und sich wie eine Bulldogge durch das Gewoge gekämpft. Kaum war er über die Brüstung auf den Balkon geklettert, verschwand Vinstedt, den sie doch unbedingt einiges fragen wollte, mit ein paar gemurmelten Worten in der Dunkelheit wie ein Gespenst.
Inzwischen begann sich der Mob im Parkett zu beruhigen. Mr. Garrick, immer noch im Kostüm des Hamlet, war tapfer auf die Bühne getreten, etliche bewaffnete Männer an seiner Seite, die ganz und gar nicht nach empfindsamen Schauspielern aussahen. Er verkündete mit zornbebender Stimme, er sei von dem Aufruhr tief erschüttert, man wolle die Sache noch einmal überdenken, in den nächsten Tagen werde es neue Nachrichten geben, aber auch das verehrte Publikum möge etwas bedenken. Nämlich dass so ein Theater ein äußerst kostspieliges Unternehmen sei, besonders die
Entertainments
, auf die gewiss niemand verzichten wolle. Leider sei nichts im Leben umsonst, schon gar nicht das Vergnügen. Nun sei die Vorstellungfür heute beendet, er bitte sehr um ruhiges Entfernen, wer es wünsche, könne morgen das heutige Billett noch einmal benutzen, allerdings nur zur Hälfte.
Erneute Unmutsäußerungen wurden durch den Anblick der Soldaten erstickt, die an allen Ausgängen auftauchten, und bald darauf drängten sich die Menschen in den Tavernen, Ginbuden und Kotelette-Häusern von Covent Garden, die in dieser Nacht das beste Geschäft des ganzen Sommers machten.
***
Nachdem die alte Bark die Scilly-Inseln, etwa zwanzig Meilen vor der Südwestspitze Englands, am Spätnachmittag mit respektvollem Abstand passiert hatte, empfand Claes Herrmanns ein tiefes Glücksgefühl. Nach wochenlanger Fahrt endlich wieder Land. Ein schmaler schemenhafter Streifen nur, aber eben doch Land. Möwen umkreisten wieder die Masten, und ihr schrilles Geschrei, das er nie besonders gemocht hatte, erschien ihm als die schönste Kantate. Er dachte an Noah. Der konnte kaum glücklicher gewesen sein, als er nach vierzig Tagen über der Wasserwüste die Taube mit dem Ölblatt im Schnabel entdeckte.
Der Gedanke legte sich tröstlich über die Erinnerung an die zahllosen Seeleute, deren Schiffe an den berüchtigten Felsenriffen um diese Inseln gescheitert waren. Dass der Kapitän ausgerechnet an diesem Morgen von dem schlimmsten Unglück dieser Region erzählen musste, fand er nicht sehr taktvoll. Vier britische Kriegsschiffe kehrten anno 1707 nach siegreicher Seeschlacht gegen den Franzosen bei Gibraltar heim und gerieten in einernebligen Oktobernacht in die tückischen Gewässer bei den Scillys. Sie gingen binnen Minuten unter, nahezu zweitausend Soldaten der Königlichen Marine ertranken damals, nur zwei überlebten.
Er hatte beschützend seine Hand auf die seiner Frau gelegt, doch Anne schien die Geschichte nicht zu ängstigen. ‹Wie gut›, hatte sie nur lächelnd gesagt, ‹dass wir in diesen schönen Junitagen kaum Nebel haben.›
Überhaupt
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