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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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seines Komödiantenlebens betrachten könnte. Dass er diese unerwartete Ehre einzig dem Schleimfieber verdankte, das einige der Schauspieler ereilt hatte, würde er bald vergessen. Ein ernsthafter Akteur lässt sich durch nichts von der Bühne und seinen Pflichten fern halten, doch krampfendes Bauchgrimmen und unberechenbare Entleerungen der Eingeweide beeinträchtigen selbst das edelste Drama. Kurz und gut, der Geist war zu besetzen, und Mr.   Lancings Vorschlag, den deutschen Prinzipal mit dieser kleinen und kaum beredten Rolle zu betrauen, fand endlich Mr.   Garricks Zustimmung – nicht zuletzt, weil es niemand anderen dafür gab.
    Ein erfahrener Heldendarsteller wie Mr.   Becker, hatte Mr.   Lancing tapfer behauptet, könne schnell seinenstummen Auftritt im ersten Aufzug und auch die wenigen Sätze lernen, die der Geist später an seinen wütenden Sohn Hamlet zu richten habe. Bis dahin, nämlich bis zur vierten Szene des dritten Aufzugs, reiche die Zeit vollauf.
    So lärmend das Publikum vor dem Heben des Vorhangs gewesen war, so still blieb es danach: kein Zwischenruf, kein trunkenes Geschrei, kein Hin- und Hergerenne. Abgesehen von einigen Schluchzern, schweren Seufzern und verhaltenem Füßescharren war nichts zu hören als das Geschehen auf der Bühne. Besonders die, die wohl das Schauspiel kannten, jedoch Mr.   Garrick und seine Schauspieler nie zuvor erlebt hatten, zeigten sich rundum sprachlos.
    Mr.   Garrick war klein von Gestalt, doch wenn er spielte, ohne den herkömmlichen Bombast in der Stimme, ohne das Gesicht zur absurden Maske zu verzerren, den Körper zu verrenken, wirkten alle Mitspieler wie Marionetten. Sein natürliches Spiel, seine Fähigkeit, mit zarten Nuancen Tiefes auszudrücken, ließ das Auditorium vergessen, dass es nur einem Spiel zusah. In keinem Theater gab es so viele Ohnmachten, wurden so viele Tränen (des Mitleidens wie des Lachens) vergossen wie in der Drury Lane.
    Als schließlich, am Ende des dritten Aktes, Hamlet den Degen zog und den hinter einer Tapete im Schlafzimmer seiner Mutter verborgenen Polonius erstach –
«Ja, gute Mutter, eine blut’ge Tat. So schlimm beinah’, als einen König töten und in die Eh’ mit seinem Bruder treten
»   –, ging ein Aufstöhnen durch den Saal, gleich darauf ein zweites; als er den toten Oberkämmerer rüde mit sich von der Bühne zerrte –
«Ich will den Wanst ins nächste Zimmer schleppen. Nun,
Mutter, gute Nacht!»
–, brandete zum Niederschweben des Vorhangs tosender Beifall auf, unterstützt von begeistertem Pfeifen und Trampeln.
    «Heilige Thalia», brüllte Helena gegen den Lärm, «und ich dachte immer, dieser Hamlet ist wirklich ein edler Prinz! Warum hast du mich nicht gewarnt, Rosina? Ich hätte das Stück vorher lesen sollen. Mit der armen Ophelia geht es auch nicht gut aus, oder?»
    «Nein», rief Rosina, der Applaus ebbte zwar ab, doch dafür wurden die Stimmen des Publikums, das umgehend seine Plaudereien und Debatten und die Wanderungen durch alle Etagen des Hauses wieder aufnahm, umso lauter. «Es ist schließlich keine Komödie. Im Drama geht es doch selten gut aus. Bist du mit Jean zufrieden?»
    «War er nicht wunderbar?» Helena klatschte stolz und glücklich in die Hände. «Ganz wunderbar. Und hast du dieses kunstvolle Grollen in seiner Stimme gehört? Keiner im Saal, der nicht erschüttert war, ich hab es genau gemerkt. Es war meisterhaft. Glaubst du, Mr.   Garrick hat es ihm gezeigt?»
    «Bestimmt», sagte Rosina, doch sie hörte nicht mehr richtig zu. In einer der unteren Logen hatte sie Graf Alwitz entdeckt. Er saß an der Brüstung, die beiden Stühle neben ihm waren leer, doch er sprach, halb zurückgewandt, ein mit Rotwein gefülltes Glas in der Hand, mit jemandem im hinteren Teil der Loge. Sie schirmte die Augen gegen das Licht der Kronleuchter ab, doch die Loge blieb trotz der beiden seitlichen Kerzenhalter zu sehr im Dunkeln, als dass sie jemanden hätte erkennen können. Nun trat ein zweiter Mann an die Brüstung, lehnte sich, ihr den Rücken zugewandt, dagegen undfüllte sein Glas aus Alwitz’ Weinkrug. Wickenham, dachte sie, er sah genauso aus wie Lady Florence’ eigensinniger Ehemann. Aber sie war nicht sicher, sie kannte ihn zu wenig, um ihn nur an seiner Gestalt zu erkennen. Immer noch wandten sich die beiden, Graf Alwitz schien gut gelaunt, einem unsichtbaren Dritten zu. Vielleicht war es Florence. Vielleicht war ihr Kummer verflogen und ihrer beider Verabredung überflüssig. Aber

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