Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
Vom Netzwerk:
überredet, Helena.» Rosina stand auf und setzte sich auf die Kante der Korbtruhe. «Ich habe nur beschlossen, für einige Zeit in London zu leben, weil es dort die besten Theater gibt. Für mich ist das ein alter Traum, den ich endlich Wirklichkeit werden lassen kann. Dass wir nun alle gemeinsam reisen, macht mich sehr froh, das stimmt, allein wäre die Reise viel schwieriger geworden, selbst wenn ich auf dem Schiff wieder Männerkleider getragen hätte. Es war auch nicht allein Jeans Entscheidung, alle waren dafür, sogar Gesine, die wahrhaftig nicht abenteuerlustig ist. Alle außer dir. Das tut mir Leid, aber ich kann es nicht ändern.» Nach einer kleinen Pause fuhr sie sanfter fort: «Eigentlich dachte ich, gerade du würdest nach all den Jahren auch gerne eine neue Stadt sehen, anstatt immer auf den gleichenStraßen durch die gleichen Dörfer und Städte zu ziehen.»
    «Das wäre nur natürlich, nicht? Schließlich sind wir
Wander
komödianten.» Helena zupfte ein altes Brusttuch aus dem Korb und bohrte mit dem Finger durch eines der Löcher. «Vielleicht liegt es daran, dass wir über das Meer fahren müssen. Ich habe bisher nur die Ostsee gesehen, und die Leute sagen, die Nordsee sei viel wilder. Man hört furchtbare Dinge von Stürmen, Kaperern und Seekrankheit. Und von Geisterschiffen, obwohl ich an solchen Unfug natürlich nicht glaube.»
    Beide wussten, dass es daran nicht lag. Doch Rosina nickte, und während sie noch nach einer freundlichen Antwort suchte, fuhr Helena fort: «Aber jetzt freue ich mich. Sicher hat Jean Recht, wir werden viel lernen. Monsieur Lessing hat auch gesagt, auf dem Theater gebe es nichts Besseres als die Kunst von Mr.   Garrick und seiner Truppe am Drury Lane Theatre. Die Themse soll wunderschön sein, und diese riesige Kathedrale mitten in der Stadt größer und prächtiger als alles, was wir je gesehen haben. Und die Vergnügungsgärten. Jeder, egal welchen Standes, kann sie besuchen, es gibt dort Orchester mit Sängerinnen, die Feuerwerke sollen – ach Rosina, ich plappere. Eigentlich will ich nur sagen: Meine schlechte Laune tut mir Leid. Kannst du mir verzeihen?»
    «So ein Unsinn», rief Rosina und griff dankbar nach Helenas Hand. Wer wusste besser als sie, wie schwer so ein erster Schritt war? «Was sollte ich verzeihen? Wir sind alle ein bisschen seltsam in diesen Tagen. Glaube mir, ich habe in den letzten Nächten mit äußerst wirren Träumen gekämpft. Dabei sind es noch zwei Wochen bis zu unserer Abreise. Nur gut, dass die Vorbereitungen uns keineZeit zum Nachdenken lassen. Madame Augusta hat mir vor einigen Tagen ein Exemplar des
Hamburgischen Correspondenten
überlassen, darin stand   …»
    Zu Helenas Glück und Seelenruhe kam sie nicht mehr dazu zu berichten, was sie über die hohe Zahl der Verbrechen, der Trunk- und Spielsucht in Englands Hauptstadt gelesen hatte. Das Hoftor flog auf und eine mehr als füllige Matrone eilte herein. Über dem vom Eifer geröteten Gesicht thronte auf eisgrauem Haar eine akkurat gebügelte Haube, mächtig genug für den Kopf eines Pferdes von mittlerer Größe. Auch ihre Schürze zeugte vom fleißigen Gebrauch des heißen Eisens, die zierliche Reihe brauner Flecken hingegen von dem Genuss des teuren Kaffees, für eine honorige Handwerkerwitwe am frühen Morgen ein sündhafter Luxus.
    «Madame Helena! Rosina!», rief sie, offensichtlich glücklich, Hof und Haus nicht verlassen vorzufinden. «Habt Ihr schon gehört? Sicher habt Ihr das, es ist ja schon gestern geschehen, aber heute spricht die ganze Stadt davon. Es ist ein Drama! Erst der Mann, dann das Kind, nun ja, das Kind nur fast, und jetzt der Faktor! Ein Dra-ma!»
    Ihre blitzenden Augen sprachen eine völlig andere Sprache als die anklagend zum Himmel erhobenen fest gefalteten Hände. Erschöpft ließ sie sich auf die zweite Weidentruhe sinken, die ihrem Gewicht nur mit bedenklichem Ächzen standhielt, und begann ausführlich zu erzählen, was sich in der Sonntagnacht in der Boehlich’schen Druckerei ereignet hatte.
    «Ein so braver Mann erschlagen», schloss sie endlich, kleine Reste schaumigen Speichels in den Mundecken. «Ermordet! In unserer Nachbarschaft. Vergesst bloß nie,das Tor zu verriegeln. Was sagt Ihr dazu, Rosina? Ihr versteht Euch doch auf diese Dinge. Ausgerechnet ein Mord», plapperte sie gleich weiter, «wo doch der Weddemeister gerade Hochzeit halten wollte. Dabei ist er ein so netter Mann. Aber ich habe gleich gesagt: Auf dieser Hochzeit liegt kein

Weitere Kostenlose Bücher