Die englische Episode
Gemeinwohl sprachen, sondern auch viel dafür taten.
«Verzwickt, diese Geschichte», wiederholte er, «und delikat. Ich denke aber, dass Ihr in diesen Dingen genug Erfahrung habt. Um ehrlich zu sein, es war die Idee der Senatorin. Sie findet, Ihr seid auch ein diskreter Mensch, der Teufel weiß, woher sie das hat. Aber es ist richtig. Gerade in diesem Fall, sagt die Senatorin, sind auch Eure kuriosen Bekanntschaften von Vorteil. Unbedingt. Sie findet Eure singende Freundin im Übrigen sehr bemerkenswert. Ich verstehe nicht viel von der Singerei, aber ich erinnere mich gut an das Fest bei den Herrmanns’, ein bisschen ungewöhnlich, was sie da sang, trotzdem nett, wirklich nett. Und wie man neuerdings hört, kommt sie aus einem guten Haus? Auch kurios, was? Macht nichts, das kann in diesem Fall nur von Vorteil sein. Wagner, Ihr seht mich an, als verstündet Ihr kein Wort.»
«Doch, Herr Senator, unbedingt. Eine verzwickte delikate Sache, mit Diskretion zu behandeln, ja. Das ist sehr schmeichelhaft für mich. Und Mademoiselle Rosina, gewiss, eine Freundin», Wagners Gesicht glühte bis unter den Scheitel wie die untergehende Sonne, «aber eine, nun ja, eine männliche Freundin. Sozusagen. Auch Madame Herrmanns …»
«Natürlich.» Endlich spießte der Senator ein Stückdes Ochsenfleisches auf und lehnte sich, die Gabel fröhlich erhoben, zurück. «Wer eine Freundin von den Herrmanns’ ist, hat Reputation. Wobei ich nicht verhehlen will, dass mein alter Freund Claes sich auch eine recht ungewöhnliche zweite Gattin ausgesucht hat. Nichts gegen die Engländerinnen, aber die liebe Madame Anne zeigt doch gar zu wunderliche
spleens
. Läuft ihm einfach davon. Kein Mensch glaubt, dass sie nur als Anstandsdame seiner leichtfertigen Tochter unterwegs ist.»
Es war Stadtgespräch gewesen, als Anne Herrmanns, immerhin die Ehefrau eines der wohlhabendsten Kaufleute der Stadt, im letzten Jahr von einem Tag auf den anderen verschwand. Und zwar in Gesellschaft ihrer Stieftochter Sophie, die selbst gerade ihrem Mann in Lissabon entlaufen war und mit einem mehr als fragwürdigen englischen Kapitän davonsegelte, der wiederum ein alter Freund von Anne Herrmanns war.
Kurz und gut, die Stadt hatte einen ihrer schönsten Skandale. Dass sich Claes Herrmanns schließlich auch noch entschloss, seiner Gattin nachzureisen, hatte die ganze Geschichte nur noch schöner gemacht. Die Damen in den Salons erkannten darin echte Liebe und Treue, selbst Madame van Witten, der niemand Rührseligkeit nachsagen konnte, war dieser Meinung. Den jungen Damen, die bei diesem Thema verdächtig abenteuerlustig glänzende Augen bekamen, wurde strikt untersagt, über Madame Herrmanns’ neueste und bisher zweifellos stärkste
caprice
zu reden. Ein ganz und gar vergebliches Verbot.
Die Herren hingegen sprachen von Schwäche, allerdings nur hinter vorgehaltener Hand. Es gab sogar Zweifel, ob es angehe, dass ein Mann, dessen Tochter sich umdie Scheidung von ihrem äußerst ehrbaren Ehemann bemühe und dessen Gattin mit ihr auf und davon sei, ob ein solcher Mann noch in die Commerzdeputation passe. Auch das debattierte man nur hinter vorgehaltener Hand und ganz gewiss nicht in Gegenwart so mächtiger Männer wie Senator van Witten, die fast ausnahmslos zu alten Freunden der Familie Herrmanns gehörten. Im Übrigen zweifelte niemand an der Börse und in den Kaffeehäusern daran, dass Claes Herrmanns mit seiner Reise zwar seiner flüchtigen Gattin folgte, aber nur, um zugleich profitable neue Geschäfte anzubahnen. Wie sonst war zu erklären, dass er nun schon mehr als ein halbes Jahr fort war und seinem Sohn die Führung des Hamburger Kontors überließ?
Seit die Nachricht gekommen war, Anne und Claes Herrmanns würden in wenigen Wochen nach Hause zurückkehren, und zwar als glückliches Ehepaar, waren auch die letzten bösen Stimmen verstummt. Die Damen triumphierten, und Madame van Witten, die Anne Herrmanns von Anfang an in ihr großes Herz geschlossen hatte, steckte schon tief in den Vorbereitungen für ein grandioses Empfangsfest. Den entschiedenen Einwand ihres Gatten, es sei klüger, zunächst die Stimmung in der Stadt abzuwarten und bis dahin nur eine kleine diskrete Feier zu planen, hatte sie mit einem einzigen entschiedenen Blick zurückgewiesen. Und weil der Senator seine Frau auch nach den vielen Jahren ihrer Ehe außerordentlich schätzte und als kluger Mann wusste, wann es besser war zu schweigen, blieb es bei der Planung des großen
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