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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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nickte. Es würde den Senator nur verwirren, wenn er ihm jetzt auch noch erklärte, dass der große Eimer sehr schwer war und den Lagervorrat enthielt, dass aus ihm in kleine Wannen abgefüllt wurde, die ihren Platz neben den Pressen hatten und aus denen erst die Druckballen mit der Farbe benetzt wurden.
    «Jedenfalls muss jemand in der Nacht an der hinteren Presse gearbeitet haben», sagte er. «Der Altgeselle hat versichert, die Pressen würden nach jedem Druck und besonders jeden Abend gründlich gesäubert, damit der nächste Druckbogen makellos bleibt. Die hintere Presse, neben der der Tote gelegen hat, war aber nicht gesäubert. Auch nicht die beiden Ballen, mit denen die Farbe auf dieLettern gerieben wird. Die war wie die Reste an der Presse zu frisch, um vom Sonnabend zu stammen. Und an der oberen der Nadeln, die den Papierbogen festhalten, damit der beim Drucken nicht verrutscht, hing noch ein Fetzen Papier. Als habe jemand eilig den Bogen herausgerissen.»
    «Ihr habt aber keinen frisch bedruckten Bogen mit abgerissener Ecke gefunden?»
    «Nein. Gar keinen frisch bedruckten Bogen.»
    «Interessant», sagte der Senator, lauschte mit nachdenklich geneigtem Kopf auf die Schläge der Augsburger Stutzuhr auf dem kleinen Tisch am Fenster seiner Amtsstube und Wagner triumphierte. Endlich hatte er das Interesse des Senators geweckt.
    «Wirklich interessant, Wagner», sagte van Witten nach dem letzten Schlag der Uhr mit plötzlicher Munterkeit, während seine Gabel das nächste Stück Ochsenfleisch traf und dazu noch ein krummes Gürkchen aufspießte, «das scheint mir alles ganz einfach: Der Faktor hat jemanden beim nächtlichen Drucken erwischt und wurde deshalb erschlagen. Fragt sich nur noch, wen er erwischt hat.»
    «Aber was hat der Faktor in der Nacht in der Druckerei gemacht? Er hatte Druckerschwärze an den Fingern   …»
    «Euer Eifer ist wie immer löblich, lieber Wagner, sehr löblich», unterbrach ihn der Senator. «Aber vergesst jetzt mal den toten Faktor. So ein simpler Mord ist eine gute Gelegenheit für Dings, wie heißt er doch? Hobert, natürlich, also eine Gelegenheit für Hobert, sich zu beweisen.»
    Wagners Röte verwandelte sich schlagartig in grünliche Blässe. Er hatte es immer gewusst. Eines Tages würdeder vermaledeite Hobert seinen Platz einnehmen. Der Gedanke ließ ihn umgehend alle Beflissenheit vergessen.
    «Ein Mord, Herr Senator, ist nie simpel. Es sei denn, man findet den Täter gleich neben dem Opfer, was aber auch nicht viel zu sagen hat. Erinnert Euch an die Sache mit dem Prinzipal der Becker’schen Komödianten. Der hockte direkt neben der Leiche am Zollhaus, deren Blut war noch warm, und dann war er es doch nicht. Für die Klärung einer solchen Sache braucht man Erfahrung, sonst wird der Falsche gehenkt. Es ist   …»
    «Halt, Wagner! Ich wollte Euch nicht Eure Verdienste absprechen. Trotzdem soll Hobert den Mörder von Boehlichs Faktor suchen, für Euch habe ich eine wichtigere Aufgabe. Nun setzt Euch wieder. Ihr macht mich sonst nervös, und das verträgt sich nicht mit dem Ochsenfleisch in meinem Magen.»
    Gehorsam sank Wagner auf die Stuhlkante, von der er sich bei seiner kleinen Rede erhoben hatte. Der neue zweite Weddemeister hatte vom ersten Tag an keinen Zweifel daran gelassen, dass er nicht lange die Nummer zwei bleiben wollte. Ob Hobert ein guter Weddemeister war, war noch nicht gewiss. Gewiss war, dass er sich auf alles verstand, was Wagner nicht beherrschte: zierliche Kratzfüße, gewandtes, gleichwohl ergebenes Plaudern, gute Manieren bei Tisch und zur rechten Zeit ein lateinisches Sätzchen. Wagner sah seinen Senator an und hoffte, der werde die Angst in seinen Augen nicht erkennen.
    «Ein Menschenleben», hub der nun neu und mit bedeutendem Gesicht an, «ist natürlich das Wichtigste, denn es ist von Gott gegeben. Ja. Darüber dürfen andere Dinge aber nicht vergessen werden, in der Bibel – ach, genug damit, jetzt hört einfach zu. Der Fall, den Ihr lösensollt, macht mich zu wütend, um fromm mit der Bibel anzufangen.»
    Der Senator schob seinen Teller zurück, ließ Messer, Gabel und Serviette daneben fallen, und während Wagner sich auf eine Geschichte voller Unholde und Infamie gefasst machte, begann der Senator wieder mit seiner Gattin.
    Madame van Witten hatte vor vielen Jahren die Patenschaft für die Tochter ihrer Milchschwester übernommen. Der Vater war wenige Wochen vor der Geburt gestorben, eine Begegnung mit einer gerade gefällten Buche,

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