Die englische Episode
ganz scheußliche Sache, fand der Senator, die junge Witwe und ihr Kind brauchten Unterstützung. Es war eine Angelegenheit von christlicher Nächstenliebe, was, wie er betonte, nicht immer schon auf Erden belohnt werde. Das Kind wuchs ohne Probleme heran, nun war es achtzehn Jahre alt, arbeitete in der Kunstblumen-Manufaktur in der Rosenstraße und gab Mutter wie Patin Anlass zu den besten Hoffnungen. Schon sah sich die Senatorin nach einem passenden Ehemann um – und was tat das undankbare Kind?
«Sie ist verschwunden, Wagner. Ihr könnt Euch vorstellen, Madame van Witten ist außer sich.»
Wagner nickte kummervoll: «Ich bedaure, das sagen zu müssen, aber die Madame Senatorin hat allen Anlass, außer sich vor Sorge zu sein. Ein junges Mädchen, ganz allein und mit unbekanntem Aufenthalt, gewiss ohne die nötigen Mittel …»
«Falsch, Wagner!» Die Faust des Senators donnerte auf den Tisch, die Fleischgabel fiel klappernd herunter und blieb unbeachtet liegen. «Ganz falsch! An Euren Vermutungen stimmt einzig, dass sie jung ist. Jung und dumm.Sie kam bei Gelegenheit in unser Haus, meistens wenn meine Frau zusätzliche Hilfe bei der Wäsche, beim Silberputzen oder was weiß ich, was im Haushalt nötig ist, brauchte. Sie sollte lernen, wie es in einem großen Haus zugeht. Das ist doch ein Privileg für ein solches Mädchen. Am Freitag war sie wieder bei uns. Und nun», der Senator schnaufte vor gerechter Empörung, «fehlt ein Teil meiner Münzsammlung. Es ist eine kostbare Sammlung, das Ergebnis jahrelanger Mühen. Auch einige sehr besondere Medaillen sind darunter. Natürlich ist sie stets gut verwahrt, nur an jenem Tag, nun ja, ich hatte gerade den neuen Münzschrank bekommen. Sehr feines Stück. Aber, nun ja, das Schloss klemmte, musste noch nachgearbeitet werden, jedenfalls waren die Schranktüren offen, verglaste Türen, zeigten alles, was drinlag. Das zu den fehlenden ‹nötigen Mitteln›. Und allein?»
Er schob seinen Stuhl zurück, stapfte zornig um den Tisch und setzte sich wieder hin.
«Da kommen wir zum wichtigsten Punkt. Sie ist nicht allein, sie hat sich an einen Kerl gehängt, in dessen Auftrag sie auch die Sammlung gestohlen hat. Allein wäre sie nie auf eine solche Idee gekommen. Sagt meine Senatorin. Ich bin mir da nicht so sicher, die jungen Frauen heutzutage – unberechenbar. Ihr müsst das diebische Frauenzimmer wieder herschaffen, Wagner, und zwar mit dem Burschen, der sie entführt hat. Und mit meinen Münzen! Wenn davon noch welche da sind.» Wieder donnerte die Faust auf den Tisch, das Messer folgte der Gabel abwärts.
«Entführt?», fragte Wagner und überlegte, ob es für seine Stellung angemessen oder unwürdig wäre, unter den Tisch zu kriechen und das Besteck aufzusammeln. «Ich dachte, sie ist mit ihm davongelaufen.»
«Das ist doch egal. Wenn sie in ihn verliebt ist – so was macht die Frauen unzurechnungsfähig. Da ist durchbrennen so gut wie entführt werden. Frauen haben nun mal keinen klaren Verstand. Es gibt da nur ein Problem.»
Das hatte Wagner befürchtet. Ohne noch ein Problem wäre die Sache zu einfach gewesen.
«Diskretion», murmelte er, «natürlich ist die höchste Diskretion vonnöten.»
«Das findet die Senatorin auch, mir ist das egal. Außerdem bin ich sicher, spätestens morgen nach der Börse pfeifen es die Spatzen von den Dächern. Wobei ich hoffe, dass die Sache mit meinen Münzen unter uns bleibt. Nein, das Problem ist ein anderes: Die beiden sind nach England entwischt, ziemlich sicher nach London, wohin auch sonst? Es gibt da einige konkrete Anhaltspunkte, außerdem geht alle Welt nach London. Ganz besonders, wer den Galgen oder das Zuchthaus in Aussicht hat. Und mit meiner Sammlung haben sie eine famose Reisekasse, nirgendwo in der Welt werden Münzen so teuer gehandelt wie in England. Das ist nun Eure Aufgabe, Wagner, Ihr müsst die beiden in London finden. Na, was sagt Ihr?»
Wagner sagte gar nichts. Er starrte den Senator an und suchte verzweifelt nach der richtigen, diesen Albtraum beendenden Antwort.
«Das geht nicht», stotterte er, und da fiel ihm plötzlich die Lösung ein: «Man spricht dort nur Englisch, ich kann davon nur das Nötigste, nicht mehr, als ich ab und zu im Hafen brauche.»
Vor lauter Erleichterung über diese wunderbare, nur ganz wenig gelogene Ausrede hätte er beinahe vorgeschlagen, Hobert zu schicken, sicher beherrschte dieserAlleskönner und Sohn eines bankrotten Tuchhändlers sogar fremdländische Sprachen.
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