Die englische Episode
Fragen gehabt und jemanden mitgebracht hatte, der ihre Sprache sprach und verstand, zumindest ein wenig.
Und nun saß sie da, war eine Diebin und fürchtete sich. Wenn schon nicht der Richter, so würde sicher Almas Mann zurückkehren, um ihre Habe zu holen. Nein, der nicht, er konnte es nicht wagen, die Constabler wartetennur darauf, ihn zu fangen und an den Galgen zu bringen. Wenn er aber jemanden schickte? Oder musste er annehmen, die Constabler hätten alle ihre Sachen mitgenommen? Taten die das, wenn sie eine Tote fanden? Oder behielt Dibber Almas Sachen, die beiden Seidenkleider, die Bibel, den Fächer …
«Wie töricht», stieß sie hervor, öffnete das Fenster und sah in die Straße hinunter. Es war einfach eine ganz normale schmutzige Stadtstraße. Da waren Leute, Hunde, ein kleines Schwein und der Junge ohne Beine auf seinem Brett mit den Holzrädern. Kein Constabler, kein Niemand, der dort auf sie lauerte, weil niemand von den Silber- und Goldstücken in Almas Mieder und erst recht nicht von ihrem, Paulines Diebstahl wusste.
Wenn Alma sie jetzt sähe, würde sie wieder lachen, und diesmal würde der Spott ihr gelten.
‹Vergiss die lästige Angst›, würde Alma sagen, ‹und nimm dir, was du brauchst. Und haut endlich ab, du und dein kreuzbraver Kaspar, gleich mit dem nächsten Schiff.›
Genau das würden sie jetzt tun. Sie würde nicht zulassen, dass Kaspar das Mieder und besonders seinen reichen Inhalt, der Freiheit und den Weg in die Zukunft bedeutete, zu dem blinden Richter brachte. Sie würde ihm widersprechen, notfalls gar drohen, ohne ihn zu reisen. Sie wollte endlich über das Meer fahren und den Hudson hinauf, der dem Rhein so sehr gleichen sollte, bis zu der Stadt, die den selben Namen trug wie der Fluss. Und wenn sie erst ihren Garten hatte, wollte sie in seine Mitte eine Linde setzen, genau in die Mitte, zum Andenken an ihre Londoner Nachbarin, die sie mit ihrem Tod gerettet hatte.
Und hin und wieder, wenn sich der Wind in den samtweichen Blättern des Baumes fing, würde sie Almas Lachen hören.
***
«Du bist verrückt, Rosina», schrie Helena. «Wann begreifst du endlich, wie gefährlich es ist, ständig allein loszuziehen. Du hast nicht einmal gesagt, was du vorhast. Wenn du nun nicht zurückgekommen wärst, wo hätten wir dich suchen sollen. Und
du
bleibst hier!»
Der letzte Satz galt nicht mehr Rosina, die hätte es nie gewagt, sich mitten in einer von Helenas schönsten Tirade davonzustehlen, sondern Jean, der die Tür zu ihrer Stube geöffnet hatte, und zwar in allerbester Laune, und vor dem Sturm der Entrüstung umgehend fliehen wollte. Dummerweise sah Helena alles, selbst wenn es hinter ihrem Rücken geschah, und die Schritte ihres Mannes erkannte sie, von seiner Neigung zum Gebrauch intensiver Duftwässer nur unwesentlich unterstützt.
«Setz dich», sagte Helena, noch immer mit von Zorn gerötetem Gesicht, doch mit beinahe ruhiger Stimme. «Rosina hat uns einiges zu erzählen, und wenn ich es richtig verstehe, braucht die schlaue Mademoiselle unseren Rat. Was für eine Ehre, wo sie doch sonst so gerne alles alleine macht.»
«Das stimmt doch gar nicht.» Rosina hatte geduldig Helenas Zorn ausgehalten, er währte meistens nur kurz, auch wusste sie, dass er der Sorge entsprang und nicht ganz unberechtigt war. Sie hatte schon oft versprochen, gefährliche Wege nicht mehr alleine zu gehen. Dummerweise stellte sich gewöhnlich erst unterwegs heraus, obein Unternehmen zum Wagnis wurde. Vor allem aber fehlte ihr die Geduld, zu suchen und zu warten, bis jemand Zeit fand, sie zu begleiten. Wenn eine Idee oder Erkenntnis in ihrem Kopf entstand, wenn sich der Blick auf etwas lange Verborgenes öffnete, hatte sie es immer eilig, dem zu folgen, und überhaupt keine Lust, zu debattieren und abzuwägen, was unweigerlich geschehen würde, sobald sie ihre Gedanken teilte.
«Es stimmt nicht, Helena», erwiderte sie fest. «Wenn ich glaubte, etwas könnte ernstlich gefahrvoll werden, habe ich immer jemanden mitgenommen.»
«Ernstlich gefahrvoll? Du meinst, eine Minute vor lebensgefährlich. Da hast du allerdings Recht. Ein- oder zweimal warst du so gütig. Sonst wärst du längst tot.»
«Könnte mir, bitte!, jemand sagen, worum ihr streitet?» Jean hatte sich neben Rosina an den Tisch gesetzt und gab sich große Mühe, seine gute Laune zu erhalten. Obwohl das schwer war, denn er hatte eine hervorragende Neuigkeit, und die würde er nun noch eine Weile für sich behalten müssen.
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