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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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zurückzukaufen.
    Armer Wagner, dachte sie, da wandert er auf der Suche nach ein paar Stücken aus der Sammlung Meile um Meile, erträgt tapfer die misstrauischen Blicke der Händler und die Gefahren der fremden Stadt, und nun fand sie den Weihnachtstaler, der mehr als die meisten anderen auf die Spur der Diebe führen konnte, zwischen Fächern und Seidenblumen in einem kleinen Laden nur wenige Minuten von der Henrietta Street entfernt.
    Egal, wie Mr.   Dibber sie genannt hatte, die Tote musste Alma Severin sein.
    Damit war die Spur auch schon wieder verweht. Alma war tot, der Mann, für den sie gestohlen hatte und mit dem sie geflohen war, verschwunden. Mr.   Dibber, der Einzige, der ihn kannte, würde – falls er überhaupt etwas wusste – bei der Suche ganz gewiss nicht helfen.
    Sie musste sich etwas einfallen lassen, aber diesmal nicht allein. Es war höchste Zeit für eine gründliche Beratung. Und für einen großen Becher von Mrs.   Tottles süßem Aniskaffee.
    ***
    Pauline Christlieb fror. Das war unvernünftig, denn es war schrecklich warm nah unter dem Dach. Wie dumm, so schnell in die Kammer zurückzukehren, nur weil der Constabler sich nach ihr umgesehen hatte. Andere Männer drehten sich auch nach ihr um, manche riefen ihr sogar Bemerkungen nach, die sie zum Glück nicht verstand, oder pfiffen durch die Zähne, wenn sie vorbeiging. Sie hatte das nie gemocht.
    ‹Warum?›, hatte Alma lachend gefragt, ‹sie finden dich reizend und pfeifen. Ich wäre beleidigt, wenn keiner mehr hinter mir herpfiffe.›
    ‹Ich bin einfach nicht daran gewöhnt›, hatte Pauline geantwortet und nach einem anderen Thema gesucht.
    Alma kam aus einer großen Stadt, da mochten die Menschen sich so betragen. Sie, Pauline, war in einem Dorf in der Pfalz geboren und aufgewachsen, jeder kannte jeden, schon das ganze Leben lang, gepfiffen wurde da nicht.
    Vielleicht war es ein Fehler gewesen, die Pfalz zu verlassen. Aber Kaspar wollte gehen. ‹Hier haben wir keine Zukunft›, hatte er gesagt, ‹die Zeiten sind zu schlecht.› Sie war seine Frau, schon seit einem Jahr, also ging sie mit ihm. Und in einer verborgenen Ecke ihres Herzens hatte sie die Lust auf das große Abenteuer gespürt, das es bedeutete, das Dorf, das Land, den ganzen Kontinent zu verlassen und ein neues Leben zu suchen. Sie würden ja nicht alleine sein. Alleine anzufangen, das hätte sie sich niemals zugetraut.
    Kaspars Bruder hatte sich vor fünf Jahren auf die große Reise über das Meer gewagt und im letzten Jahr geschrieben, es gehe ihm gut, Kaspar solle endlich nachkommen, für einen tüchtigen Tischler gebe es im Land am Hudsonmehr Arbeit, als zu bewältigen sei. Allenthalben baue man Häuser und Scheunen und der Bedarf an einfachen Möbeln sei groß. Auch lebten viele Pfälzer in seiner Nachbarschaft, man wolle bald eine eigene Kirche errichten, ein Pfarrer sei schon da.
    Aber er hatte kein Geld geschickt, natürlich nicht, wenn er sich ein Haus baute. Auch für die neue Kirche und den Pfarrer würde jedes Mitglied der neuen Gemeinde seinen Anteil geben müssen.
    Ihre Mitgift reichte für die Reise bis London: zuerst den Rhein hinunter auf einem der großen Flöße, dicke Baumstämme, zumeist aus dem Schwarzwald, für den holländischen Schiffbau, weiter mit dem Postschiff über den Kanal nach Dover. Der Fuhrmann, der sie und einige andere Reisende nach London brachte, empfahl ihnen die Zimmer bei Mr.   Dibber und fuhr sie gegen ein geringes Aufgeld bis in die Half Moon Street. Sie waren ihm dankbar gewesen, denn sie kannten niemanden in London und hatten nicht gewusst, an wen sie sich in diesem unendlichen Häusermeer wenden sollten. Schon in der Half Moon Street lebten auf entsetzlich engem Raum mehr Menschen als in ihrem Dorf.
    ‹Es ist nur für ein paar Wochen›, sagte Kaspar, als sie müde und von dem Lärm und der schrecklichen Luft den Tränen nahe in das winzige stickige Zimmer trat. ‹Nur für ein paar Wochen, höchstens ein Vierteljahr, dann geht es weiter. Wenn wir erst in Hudson sind, haben wir immer frische Luft und bald ein eigenes Haus. Mit einem großen Garten. Und der Fluss dort ist genauso schön wie der Rhein. Heimweh gibt’s da keines mehr. Wirst schon sehen.›
    Er sagte in der letzten Zeit oft ‹wirst schon sehn›, undsie wusste, dass er das sagte, um selbst zu glauben, was er versprach. London war voll von Männern und Frauen, sogar von Kindern, die alle nur für einige Wochen hier bleiben wollten, um wie Kaspar das Geld

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