Die englische Episode
gesagt, er sei ein hochgewachsener, schöner junger Herr. Ich will unseren Weddemeister nicht beleidigen, aber dass ihm die Natur nur ziemlich kurze Beine zugestanden hat, ist offensichtlich und unbestreitbar. Ich finde, er hätte das sowieso längst tun sollen, mit dem Richter sprechen, meine ich. Der steht im Ruf, ein kluger und gerechter Mann zu sein, was man nicht von vielen Richtern sagt, und mit van Wittens gesiegeltem Schreiben …»
«Das gibt es nicht mehr», unterbrach ihn Karla. «Adam hatte ein sehr schönes Schreiben, aber nun hat er es nicht mehr. Ich …»
«Ja», unterbrach Wagner sie hastig, «es ist weg. Ich hab’s verloren. Leider, ja.»
«Aber Adam. Das stimmt doch gar nicht.» Karla hatte ihn bisher für den ehrlichsten Mann unter der Sonne gehalten und sah ihn erstaunt an. «Ich war es doch. Ich habe nämlich ein Stück Kabeljau draufgelegt», erklärte sie den anderen, «ein ganz dummes Versehen. Dann wollte ich die Flecken abwischen, ich habe gewischt und gewischt, und dann konnte man nichts mehr darauf lesen und das Siegel hat sich auch abgelöst. Da habe ich es weggeworfen. Adam hat immer so viele voll geschriebene Zettel, ich dachte, da kommt es auf das eine Stück Papier nicht an.»
Jean zog scharf die Luft durch die Zähne, er hatte fest darauf gebaut, das gesiegelte Schreiben werde ihn retten, falls er durch widrige Umstände, zum Beispiel am Spieltisch, in der Hölle von Newgate landen würde. Helena unterdrückte glucksend ein Lachen und Titus knurrte: «Es wird Zeit, dass unsere liebe Madame Wagner lesen und schreiben lernt.»
«Das kann sie», stieß Wagner wütend hervor, «im Waisenhaus lernen das alle, vielleicht nicht sehr gründlich,es ist auch etliche Jahre her und sie hatte seitdem kaum Gelegenheit, sich darin zu üben. Es ist einzig meine Schuld, ich hätte einen so wichtigen Brief nicht auf den Tisch legen sollen.»
«Macht nichts, Wagner», sagte Rosina und nahm sich vor, Karla unbedingt zu mehr Übung zu verhelfen. «Weg ist weg, und wer weiß, ob ein englischer Richter das Schreiben überhaupt anerkannt hätte. Lasst uns überlegen, was nun zu tun ist.»
«Wir sollten uns zuerst um dieses goldbestückte Mieder kümmern», schlug Jean vor. «Wenn das Mädchen schon tot und dieser Felix Dingsbums nicht mehr aufzutreiben ist, wird es den Senator milde stimmen, wenn Wagner ihm wenigstens ein paar seiner Münzen zurückbringt. Wenn ich in die Half Moon Street gehe, gelingt es mir gewiss, Mrs. Dibber zu sprechen. Gattinnen verdrießlicher Kerle sind empfänglich für ein Lächeln und zeigen sich schon nach den schlichtesten Komplimenten gerne zur Hilfe bereit. Mir wird auch etwas einfallen, warum ich ausgerechnet dieses Mieder brauche.»
«Das kommt überhaupt nicht in Frage», stieß Helena aufgebracht hervor, diesmal nicht vor Ärger, sondern aus reiner Sorge. «Abgesehen davon, dass die Wirtin wahrscheinlich selbst das verfluchte Mieder und was ihr sonst noch aus Almas Reisekorb gefiel, längst beiseite geschafft hat, reicht es völlig, dass Rosina sich dort herumgedrückt hat. Dass dieser Dibber nicht gerade die Seele eines Predigers hat, ist doch klar. Und denke an die Beschreibung von Landahl.
Deine
Beine sind nicht zu kurz geraten, dich könnte ein Constabler, der dort womöglich auf der Lauer liegt, sehr leicht für den Mörder halten. Zumindest für dessen Kumpan.»
«Genau», rief Titus, der sonst selten die Stimme über ein Brummen erhob. «Erinnere dich an die Tage, als du vor ein paar Jahren in der Hamburger Fronerei auf den Galgen gewartet hast. Alle haben dich damals für den Messerstecher gehalten, und es war verdammt anstrengend, die Wahrheit herauszubekommen. Wie sollten wir dich hier, wo wir uns nicht auskennen und keine Hilfe finden werden, wieder aus dem Loch holen? Nach der Sache mit dem Kabeljau.»
«Der Senator wird ohne seine Münzen nicht verhungern», sagte Helena und warf Titus einen dankbaren Blick zu, «und an Wagners Reputation können wir später denken. Da fällt uns bestimmt etwas ein. Zuerst müssen wir uns um das arme Mädchen kümmern. Diebin hin oder her, wir können ihre Leiche doch nicht den Chirurgen und Studenten im Anatomischen Theater für ihre Experimente überlassen. Oder glaubt ihr etwa, dass man in dieser Stadt einer unbekannten Ermordeten, dazu noch aus einem fremden Land, ein ehrenvolles Begräbnis spendiert?»
«Was stellst du dir vor?», fragte Titus. «Sollen wir die Leiche stehlen und bei Nacht und Nebel
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