Die englische Episode
die Constablers ihr Reisepapier gefunden, es war auf Alma Severin aus Hamburg ausgestellt. Seltsamerweise mit einem holländischenStempel, den Ort habe ich leider vergessen, aber ich denke, der ist jetzt nicht wichtig. Das bedeutet, sie hat Hamburg sehr plötzlich verlassen und keine Zeit gehabt, dort einen Pass ausstellen zu lassen.»
«Nachdem sie die Münzen gestohlen hatte, war es kaum angebracht, noch lange herumzutrödeln. Oder sie war zu schlau dazu. Den Pass hätte sie im Rathaus ausstellen lassen müssen, dort hätte der Senator bestimmt davon erfahren.»
«Daran habe ich nicht gedacht. Das stimmt natürlich, unser guter van Witten steckt seine Nase in alles. Aber wie konnte sie in Holland, wo sie ganz unbekannt war, Reisepapiere bekommen?»
Rosina zuckte mit den Achseln. «Das geht überall auf verschiedene Weise. Wenn man keine Bürgerrechte hat und das Kirchenbuch nicht zur Hand ist, also überall außer in der eigenen Heimatstadt, braucht man gewöhnlich jemanden, der dort selbst bekannt ist oder Papiere hat und beschwört, wer man ist. Ob es die Holländer anders machen, weiß ich nicht. Bis Holland sind wir nie gereist.»
«Nun gut, jedenfalls hatte sie so ein Papier. Von dem Mann, mit dem sie in der Half Moon Street gewohnt hat, haben sie gar nichts gefunden. Nicht mal ein Taschentuch. Der Richter wusste auch seinen Namen nicht, bis ich ihn nannte. Der Wirt, Mr. Dibber, hat nämlich behauptet, er wisse ihn nicht genau, weil er so vergesslich sei. Er glaubte sich zu erinnen, so sagte er jedenfalls, dass der Mann sich Miller genannt hat. Miller, ich bitte Euch! Fehlt dem Mann denn jede Phantasie? Der Richter hält das auch für einen falschen Namen, wobei er nicht entscheiden mochte, ob den sich Dibber oder der vermeintliche Mr. Miller selbst ausgedacht hat. Er war überrascht,als ich ihm den richtigen Namen nannte, gleichwohl fürchtet er, dass ihm das nicht viel hilft. Wenn Alma wirklich mit einem Felix Landahl aus Göttingen oder Hamburg nach London gereist sei und der Mensch sich hier Miller nenne, helfe der Name nicht viel, sagte der Richter. Außerdem: Woher wissen wir, ob Landahl sein richtiger Name ist? Mag sein, er hat schon in Hamburg einen falschen benutzt. Immerhin stimmt die Beschreibung, die der Senator von Almas Hamburger Freundin hatte, mit der überein, die eine junge Frau in der Half Moon Street dem Richter gegeben hat. Aber beide sind so vage und allgemein – sie treffen auf die halbe männliche, etwa dreißigjährige Bevölkerung Londons zu. Sogar auf Euren Gatten, Lady Wickenham. Verzeiht», sie klopfte sanft auf Florence’ Rücken, bis sich deren erschreckter Hustenanfall wieder gelegt hatte, «das war ein Scherz, nur ein dummer Scherz.»
«Danke», flüsterte Florence heiser, «ich habe mich nur verschluckt, es hat gar nichts zu bedeuten.»
«Ich verstehe nicht», überlegte Rosina, «warum sie sich Papiere auf ihren Namen ausstellen ließ. In Holland musste irgendjemand bezeugen, wer sie ist – man kann doch alles bezeugen lassen, solange man gut bezahlen kann. Und das konnte sie, sie hatte die Münzen.»
«Ihr beschäftigt Euch zu viel mit Verbrechen, Rosina», sagte Augusta amüsiert. «Dass sie mit einem Halunken durchgebrannt ist, heißt noch nicht, dass sie auch nur Halunken kennt. Vielleicht waren sie in Holland bei äußerst ehrbaren Leuten. Ach, ich weiß es nicht», sie schüttelte unwirsch die Kekskrümel von ihren Röcken, «mir ist dies alles zu kompliziert. Dass sie durchgebrannt ist», fuhr sie nach einem Moment fort, «nehme ich ihrnicht übel, obwohl das selten gut ausgeht. Ich bedauere ihren schrecklichen Tod tief, aber dass sie van Witten bestohlen hat! Das ist eine Schande, die sie ihrer Patin und vor allem ihrer armen Mutter nicht hätte antun dürfen. Diese dumme Gans. Verzeiht, mein Zorn ist nicht gerade pietätvoll, und Ihr, Rosina, seht das vielleicht anders. Aber als Ihr durchgebrannt seid, habt Ihr keine kostbare Sammlung mitgenommen. Oder etwa doch?»
Beinahe hätte sich Florence auch noch an dem letzten Biskuitbröckchen verschluckt. Sie wusste von Rosinas Flucht aus deren Elternhaus, aber sie konnte sich absolut nicht vorstellen, dass eine Frau, die mit Madame Augusta und einem Bruder des königlichen Musikmeisters bekannt war, eine Diebin sein könnte.
«Nein», hörte sie Rosina kühl antworten, «keine kostbare Sammlung, obwohl ich dann sicher nicht so hungrig gewesen wäre. Ich habe nur dem Gärtner eine alte Jacke gestohlen und
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