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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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betraf, mochte Augusta Recht haben. Hinter dieser Larve der Contenance, die Florence nach jahrelanger Dressur zur Selbstverständlichkeit geworden war, sah es allerdings ganz anders aus.
    Sie hatte Augustas Einladung, in ihrer Droschke mit zum St.   James Square zurückzufahren, gerne angenommen. Lange nicht mehr hatte sie einen so aufregenden Tag erlebt, nicht mehr, seit William um sie angehalten hatte. Oder seit sie sich als zu erwachsen empfunden hatte, mit Mollys Hilfe über die Gartenmauer in die Freiheit zu klettern. Es stimmte: Freiheit war auch anstrengend. Selbst wenn sie nur darin bestand, auf einem Friedhof unter blühenden Linden und struppigen Fliederbüschen zu sitzen und unpassende Geschichten zu hören. Und einen aufregenden Plan zu machen.
    Der Gedanke daran ließ ihren Herzschlag einen kleinen Hüpfer machen. Vielleicht war das alles nur verrückt. Aber ihr blieb immer noch die Wahl. ‹Schickt mir eine Nachricht, wenn es so weit ist›, hatte Rosina gesagt. Ob sie das tun würde, lag einzig bei ihr selbst. Sie hoffte,William werde ihr nicht zu viel Zeit lassen, darüber nachzudenken.
    «Mrs.   Kjellerup? Darf ich Euch etwas fragen?»
    «Natürlich, Florence. Ich dachte, Ihr seid müde, und wollte Euch nicht mit Geschwätz stören. Was möchtet Ihr wissen?»
    «Hat Rosina niemals Angst?»
    Augusta überlegte einen Moment. «Doch», sagte sie dann, «natürlich hat sie Angst, vor vielerlei, wie jeder halbwegs vernünftige Mensch. Sie lässt sich nur nicht so leicht ins Bockshorn jagen. Mit der Angst hat es doch eine besondere Bewandtnis. Einerseits hilft sie uns, zu überleben und manches zu lassen, was nur schadet. Andererseits ist sie ein Hemmschuh. Wenn ich mich ständig davon bremsen lasse, etwas könnte gefährlich, brüskierend oder auch nur unbequem werden, bin ich irgendwann wie ein Vogel, der im Käfig das Fliegen verlernt hat. Ich glaube, Rosina versteht sich auf die Kunst, ihre Angst erst zu fühlen, wenn es angebracht ist. Das hört sich harmlos an, aber es ist ein Balanceakt der Seele, der auch gefährlich werden kann.»
    Florence nickte langsam und ließ ihren Blick wieder aus dem Fenster wandern. Als die Droschke an Northumberland House vorbeirollte, beugte sie sich zum Fenster vor und blinzelte zu dem mächtigen steinernen Löwen hoch über dem Tor hinauf.
    «Glaubt Ihr, man kann es lernen?», fragte sie plötzlich. «Selbst wenn man schon erwachsen ist?»
    «Ich bin eine alte Frau, meine Liebe, und kann Euch versichern, dass das Lernen niemals aufhört. Wenn man es will und zulässt, es ist ja oft recht lästig und beunruhigend. Man kann alles lernen, Florence, sogar auf dem Seilzu tanzen. Wenn man geduldig und nicht zu streng mit sich ist. Womöglich ist es dabei hilfreich, wenn man seine Seele weniger nach Angst und mehr nach Mut durchforscht. Doch, das ist es ganz bestimmt.»
    «Danke», sagte Florence. Mehr nicht, und Augusta spürte einen Moment der Rührung. So wie man fühlt, wenn man einen Menschen erlebt, der sich tapfer auf die Suche nach dem verschütteten Mut macht.
    Den Rest der Fahrt legten sie schweigend zurück. Es war ein angenehmes Schweigen. Irgendwann fiel Augusta ein, dass sie vergessen hatte, Rosina nach dem Stand ihrer Suche nach Madame Boehlichs mörderischem Gesellen zu fragen. Es beunruhigte sie nur für einen Augenblick. Wenn es etwas Neues zu berichten gäbe, hätte Rosina das zweifellos getan.
    ***
    An anderen Tagen hätte Mr.   Cutler die Fahrt in seinem neuen Cabriolet genossen. Der Einspänner war von großer Eleganz, bewegte sich wendig und passierte auch enge Straßen ohne Kratzer und Karambolagen. Die leichte Federung war ein Labsal für seine steifen Knochen, auch wenn sie das Gefährt hin und wieder zu kleinen Bocksprüngen verführte (die er allerdings als Freudensprünge empfand). Nun jedoch dachte er an Madame Augusta und seufzte bekümmert.
    Er war sicher gewesen, ihr Erfreuliches berichten zu können, und jetzt? Es nützte nichts, er musste es ihr sagen. Vielleicht besser erst morgen. Es wäre geradezu schändlich, einen trotz des dräuenden Himmels schönen Abend wie diesen mit grauen Gedanken zu verderben.Umso mehr, als er selbst heute außerordentlich erfreuliche Nachrichten erhalten hatte.
    Sein griechisch-römischer Hund, das hatte ihm Mr.   Wilberhood stolz verkündet, sei endlich gefunden, in der römischen Villa eines uralten Adelsgeschlechts, das – leider, wirklich zu traurig! – während der letzten Jahrzehnte einen fatalen

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