Die englische Episode
einem der Pagen die Kniehose. Meine Kleider eigneten sich nicht für ein solches Unternehmen, und ich wusste, mein Vater würde die Sachen ersetzen. Konntet Ihr Almas sterbliche Überreste vor dem Anatomischen Theater bewahren?»
Augusta nickte. Sie bereute schon ihre taktlose Frage und war Rosina für den abrupten Wechsel des delikaten Themas dankbar.
«Ja, gerade noch. Sie bekommt ein christliches Begräbnis, Mrs. Pratt wird mir helfen, es zu organisieren. Ich dachte, Ihr wolltet Euch hier nur um das wunderbare englische Theater kümmern, Rosina, und nun pfuscht Ihr unserem braven Wagner wieder ordentlich ins Handwerk.»
«Nicht wirklich», Rosina blinzelte mit zusammengekniffenenAugen in die Sonne, «und nun ist es vorüber. Die Patentochter der Senatorin ist tot, die Münzen sind wer weiß wo und Landahl über alle Berge. Wenn er nicht ganz dumm ist und nun, wo er als Mörder gesucht wird, noch in London bleibt.»
«Glaubt Ihr?» Augusta sah einem Rotkehlchen nach, das auf einem bröckligen Sarkophag entlangtrippelte und davonflog. «Falls er kein anderes Versteck in diesem Land weiß», fuhr sie fort, «tut er doch am besten daran, hier – in irgendeinem anderen Teil der Stadt – unterzuschlüpfen. In London, so heißt es, genau weiß das niemand, sollen 800 000 Menschen leben, achtmal so viele wie in Hamburg!, und es gibt Quartiere, in die setzt keine Wache, kein Soldat, kein Richter je einen Fuß. Wenn ich mich verstecken müsste, würde ich hier bleiben. In irgendeinem der zahllosen Höfe oder nahe der Themse in den sumpfigen Arealen östlich des Towers. Dort fände mich niemand.»
Rosina lachte hell auf. «Doch, Madame Augusta, Euch fände man bald. Weil Ihr sofort beginnen würdet, mit der Unordnung aufzuräumen. Ihr würdet Alte und Kranke mit eurem Rosmarin-Branntwein traktieren und den Pfarrer aufscheuchen, damit er bessere Predigten hält, vor allem kürzere. Eure Anwesenheit würde sich herumsprechen wie ein Lauffeuer.»
«Das hört sich ja schrecklich an.» Augusta schubste vergnügt einen Kiesel über den Weg. «Bin ich so schlimm?»
«Schlimmer», sagte Rosina milde, die selbst den Trost von Augustas so großem wie resolutem Herzen erfahren hatte.
«Dann will ich mich gleich noch einmal einmischen.Ich glaube auch, dass Ihr Euch nun ganz den Londoner Vergnügungen widmen könnt. Wahrscheinlich ist Landahl, oder wie immer er tatsächlich heißt, nämlich längst auf einem Schiff nach Ostindien. Das wäre doch am schlausten. Weiter weg geht es kaum. Aber wegen van Wittens dummer Münzen kann uns vermutlich Mr. Cutler helfen, das würde Wagner sehr erleichtern. Euer Vater ist doch ein großer Sammler, Lady Wickenham hat er außer seinem Naturalienkabinett auch Münzen? Oder Medaillen? Dann kennt er gewiss ein paar der zwielichtigen Händler, die sind für so etwas immer die beste Adresse.»
«Nein.» Florence fand den Gedanken, ihr Vater könnte auch nur eine zwielichtige Person kennen, so befremdlich wie anregend. «Leider sammelt er nur Naturalien. Tote Käfer, getrocknete Pflanzen, ausgestopfte Schlangen, seltsame Muscheln und solcherlei Dinge. Ihr habt sie schon bewundern müssen. Neuerdings liebt er auch griechische und römische Statuen und Vasen, aber Münzen liebt er nur, wenn sie neu sind. Und könntet Ihr mich bitte einfach Florence nennen?»
Rosina fand, Florence hatte heute schon genug Neues erfahren. Es gab keinen Grund zu erwähnen, dass Mr. Cutler Namen und genaue Adressen
äußerst
zwielichtiger Händler sogar im Kopf hatte.
***
Augusta lauschte auf die grobe Stimme des Droschkenkutschers, der sich mit einem anderen darum stritt, wer zuerst eine Enge in der Straße passieren dürfe. Aber sie hörte nicht wirklich zu, denn sie war damit beschäftigt zu überlegen, was hinter Florence’ Stirn vorgehen mochte.Die saß ihr still gegenüber, die Hände im Schoß gefaltet, den Blick aus dem Droschkenfenster auf die langsam vorbeiziehenden Straßen gerichtet.
Von ihren wenigen Begegnungen kannte Augusta sie als zurückhaltende, niemals dumme oder törichte Gesprächspartnerin. Ihr spröder Witz, ihr unsentimentaler Blick auf ihre eigene Welt hatten Augusta überrascht und amüsiert. Sie hätte gerne gewusst, was Florence über ihre ‹Friedhofskonferenz› dachte. Doch nun zeigte sie wieder die gleiche steife Haltung, den gleichen angestrengten Ausdruck wie an jenem Vormittag im Salon, als William ihr die Leiter hinuntergeholfen hatte.
Was Haltung und Ausdruck
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