Die englische Episode
aber wir waren uns einig zu warten, bis Mr. Garrick wieder auftritt. Mr. Lancing hat doch gesagt, der sei wegen irgendeiner Unpässlichkeit in seinem Landhaus.»
«Vielleicht ist er schon wieder zurück.» Manon nahm eine Feder aus Rosinas Schreibkasten und begann sorgfältig den Kiel nachzuschneiden. «Und dann will ich in die Königliche Oper am Haymarket. Ich war noch nie in einer Oper und Mrs. Tottle sagt, das sei das Wunderbarste überhaupt.»
«Es kommt darauf an.» Rosina fuhr sich mit der Feder übers Kinn und lächelte in die Ferne ihrer Erinnerung. «Wenn die Musiker und Sänger ihr Handwerk verstehen,ist es wunderbar, dann gibt es kaum Schöneres. Wenn aber nicht», sie beugte sich wieder über Wagners Plan, «ist es grässlich. Vor allem die Sängerinnen. An den Höfen werden sie nämlich oft weniger wegen ihrer Kunst als ihrer Gunst engagiert. Darauf musst du unbedingt achten», wandte sie sich an Karla, «Kunst und Gunst sind Worte mit sehr verschiedener Bedeutung. Obwohl man sie bei uns in Sachsen leicht verwechselt. Ganz besonders am Hof und nicht nur in der Aussprache. Kunst mit K und Gunst mit G.»
Karla verstand kein Wort und kicherte sicherheitshalber, ohne jedoch ihre Übung zu unterbrechen.
Manon sah Rosina mit großen Augen an. «Heißt das, du warst schon einmal in der Oper?», fragte sie. «Wo? In Leipzig?»
«Da gibt es keine. In den deutschen Ländern leisten sich nur die Höfe Opern. Außer Hamburg. Dort hat es eine sehr berühmte gegeben, obwohl an der Alster kein Fürst oder König herrscht, sondern reiche Bürger. Sie stand genau dort, wo jetzt das Ackermann’sche Theater steht, im Theaterhof am Gänsemarkt. Sie ging aber schon vor ziemlich langer Zeit Bankrott.»
«Aber wo hast du …»
Es blieb Rosina erspart, Manon von den schlechten Sängerinnen an der winzigen Oper des Landes- und Dienstherrn ihres Vaters zu erzählen. Oder von der betörenden Stimme ihrer Mutter, die sie nur hören durfte, wenn ihr Vater auf einer seiner Reisen war. Edward, Mrs. Tottles ältester Sohn und genauso sommersprossig und rotlockig wie seine Mutter, stand in der Tür.
«Da ist Besuch für Euch, Miss», sagte er. «Eine Dame.»
«Madame Augusta», rief Rosina, «endlich. Wo ist sie, Edward? Warum führst du sie nicht herein?»
«Weil sie nicht wollte, Miss. Die Dame ist etwas seltsam, sie hat gesagt, sie wartet auf dem Friedhof.»
Karlas Feder machte einen Satz über das Papier und hinterließ drei dicke Kleckser.
«Warum auf dem Friedhof?», fragte Rosina.
«Keine Ahnung. Ich sag ja, sie ist etwas seltsam.»
Auf dem Friedhof saß auf einer der Bänke eine einsame Gestalt unter einem Sonnenschirm, zwei alte Frauen hockten neben einem der ärmlichen Sarkophage in der Sonne und warfen Sperlingen Brotkrumen zu, links der Kirche, nahe der vorderen Pforte zur Piazza, knieten drei Männer, allerdings nicht im Gebet, sondern über einem Würfelspiel – von Madame Augusta keine Spur.
Edward hatte sich einen dummen Spaß gemacht. Oder sie hinausgelockt, um ein paar Minuten bei Manon zu sein, die er nur von ferne sehen musste, um tief zu erröten.
«Miss Hardenstein, bitte.» Die Gestalt mit dem Sonnenschirm stand hinter ihr und klappte den Schirm zu.
«Lady Wickenham? Wie freundlich von Euch, Madame Augusta zu begleiten.» Noch einmal sandte Rosina einen raschen Blick über den Friedhof. «Wo hat sie sich versteckt?»
«Oh.» Florence’ Gesicht wurde noch grimmiger. «Ich wusste nicht, dass Ihr Madame Kjellerup erwartet. Sie ist nicht hier, leider. Nur ich. Aber wenn Ihr Besuch bekommt, will ich nicht stören, sicher seid Ihr überhaupt furchtbar beschäftigt.»
«Wir sind zum Vergnügen in London, Lady Wickenham.»Rosina suchte vergeblich in dem geröteten Gesicht, in dem undurchdringlichen Blick zu lesen. «Ich bin absolut nicht beschäftigt. Ich gebe zu, Euer Besuch überrascht mich, aber er ist mir eine Freude. Wenn ich Eure Wahl des Ortes auch überraschend finde.»
«Eine dumme Wahl, nicht wahr?» Florence’ Miene verlor ein wenig von ihrem Grimm, doch nichts von der dahinter verborgenen Beklommenheit. «Glaubt bitte nicht, ich wolle Euch beleidigen, indem ich Eure Wohnung meide. Ich dachte nur, nun ja, ich dachte, sicher seid Ihr nicht allein, und ich möchte Euch unbedingt alleine sprechen. Friedhöfe sind so stille Orte, diesen habe ich entdeckt, als ich die Henrietta Street suchte, und die blühenden Linden duften so schön.»
«Seid Ihr etwa alleine hier? In
Weitere Kostenlose Bücher