Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
Vom Netzwerk:
großer Sorge. Zweifellos war der König schlecht beraten, wenn er die aufblühende Wirtschaft dort drüben immer wieder mitfragwürdigen Gesetzen, Steuern und Zöllen zu ersticken suchte oder gar die Besiedlung westlich des Alleghenygebirges verbot. Dennoch, Aufruhr konnte niemals zu etwas Gutem führen, vor allem nicht für den Handel. Es sei denn, man produzierte Waffen. Vielleicht war es nützlich, einmal darüber nachzudenken, sich an diesen Geschäften zu beteiligen.
    Er lehnte sich seufzend in seinen gepolsterten Sitz zurück, froh, dass er seine Geschäfte längst seinen Söhnen überlassen hatte und sich darüber keine Gedanken zu machen brauchte. Besser sollte er darüber nachdenken, wie er Madame Augusta die Sorge um ihren Neffen und dessen Gattin – immerhin aus englischer Familie, wenn auch von der Insel Jersey und damit beinahe eine Französin – nehmen konnte. Aber wie? Wer ein Schiff versäumte, musste triftige Gründe haben. Mr.   Cutler hoffte, dass es in diesem Fall selbst gewählte waren.
    ***
    Die ersten beiden Männer, die ihr einen guten Preis versprachen, wies Rosina noch entschieden, doch halbwegs höflich ab. Der dritte hatte Pech. Bevor er auch nur die üblichen auffordernden Worte loswerden konnte, jagte ihn eine Schimpfkanonade in die Flucht, die ihn, einen braven Familienvater aus East Anglia bei seinem ersten Versuch, lasterhaft zu sein, die Londoner Huren hinfort fürchten ließ wie die Straßenräuber. Rosina sah ihm mit grimmiger Genugtuung nach, ignorierte die neugierigen Blicke der Passanten und die anzüglichen Pfiffe dreier halbwüchsiger Rotznasen und eilte endlich in die Ave Maria Lane. Sie hatte absolut keine Lust, herumzustehenund sich noch einmal als etwas begaffen und ansprechen zu lassen, was sie nicht war.
    Das hatte sie nun von ihrem Versprechen, nicht mehr allein zu ‹Verabredungen mit ungewissem Ausgang› zu gehen. So waren Helenas Worte gewesen, und obwohl die Verabredung, die sie für heute getroffen hatte, ihr keineswegs unsicher erschien, hatte sie Muto gebeten, sie zu begleiten. Er war begeistert gewesen. Eine Druckerei, hatte er ihr zu verstehen gegeben, habe er immer schon einmal genau ansehen wollen, und ob dort auch Zeitungen gedruckt würden, es gebe in London doch so viele verschiedene.
    Und dann verging die verabredete Zeit, und Muto kam nicht. Niemand wusste, wo er war, nur Manon vermutete, er sei bei dem Pantomimen auf der Piazza, dort verbringe er neuerdings die meiste Zeit.
    Rosina wusste nichts von einem Pantomimen und spürte ihr Gewissen. Seit sie in London und ohne die gemeinsame Arbeit für ihr Theater waren, ging jeder seiner Wege. Sie genoss diese neue Freiheit, umso mehr, als sie wusste, dass es nur eine Freiheit auf Zeit war, wie eine Sommerfrische. Sie hatte angenommen (wenn sie überhaupt während der letzten Tage daran gedacht hatte), Muto erkunde mit Fritz und oft auch mit dessen Schwester Manon die Stadt, aber nie gefragt, was sie erlebt hatten. Hoffentlich taten es die anderen.
    Dass er bei einem Pantomimen war, gefiel ihr nicht. Er sollte nicht lernen, seine Stummheit noch besser auszugleichen, sondern endlich laut zu sprechen.
    Sie hatten Muto vor einigen Jahren in einer Leipziger Gosse gefunden, ein blutendes stummes Kind, ihn gesund gepflegt und, weil fahrendes Volk von den Sesshaftengern des Kinderraubs verdächtigt wird, schweren Herzens ins Findelhaus gebracht. Eine halbe Meile vor der Stadt kam er ihnen jedoch nachgerannt, da versteckten sie ihn unter einer Plane, und seither gehörte er zur Becker’schen Gesellschaft. Ein Kind von der Straße, so wie sie um noch einige Jahre früher eines gewesen war.
    Sie wussten nichts von seiner Herkunft, sie musste einfach sein, wie die Kleider gewesen waren, die er getragen hatte. Sie wussten auch nichts von dem Schrecken, den er erlebt hatte. Mittlerweile wussten sie immerhin, dass seine Stummheit nicht an einem Mangel seines Körpers lag. Da war etwas in seinem Kopf oder seiner Seele, das ihm das Sprechen verbot. Inzwischen war er fast ein Mann. Er hatte sich zu einem eleganten Akrobaten gemausert, und weil er klug war und voller Phantasie, hatte er schnell seine eigene Sprache gefunden, mit seinen Händen, seiner Miene, seinem ganzen Körper.
    Wenn Rosina sich mit ihm unterhielt, vergaß sie oft, dass er nicht mit Lauten redete, und manchmal antwortete sie ihm, ohne es zu bemerken, auf seine Weise. Alle Mitglieder der Becker’schen Gesellschaft verstanden Mutos Sprache und alle

Weitere Kostenlose Bücher