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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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keinen Grund für so eine Maßnahme gab. Außerdem war ihre Wut nicht frei von Schuldgefühlen wegen des Tods des Flüchtlings.
    Mit der Zeit wich die Empörung der Haymakers einer verlegenen Verteidigungshaltung, denn nun vermuteten Jack und Judith hinter Honors Schweigen einen stillen Vorwurf. Immer wieder versuchten sie, Honor ihr Handeln – oder Nichthandeln – zu erklären, da Honor aber beharrlich weiterschwieg, wussten sie nicht, ob ihre Worte überhaupt zu ihr durchdrangen. Honor hörte den Haymakers zwar aufmerksam zu und blickte ihnen dabei fest in die Augen, antwortete aber nicht, sondern wendete sich wieder dem zu, was sie gerade tat – melken, waschen, hacken oder nähen.
    Die Beziehung zwischen Honor und ihrer Schwägerin hingegen verbesserte sich. Vielleicht hatte Dorcas nicht mehr das Gefühl, mit ihr konkurrieren zu müssen. Jetzt konnte sie so viel reden, wie sie wollte, und tat es auch. Sie war dazu übergegangen, Honor ihre »Schwester« zu nennen, und ergriff auch gerne das Wort für sie: »Ich glaube, Honor hätte gerne noch ein Stück Kirschkuchen«; »Honor und ich werden heute Abend das Melken übernehmen, nicht wahr, Schwester?«; »Ich bin mir sicher, dass Honor beim Quiltkränzchen das zentrale Motiv quilten wird, oder, Schwester?« Honor ließ sie gewähren. Es war einfacher so.
    Nach einiger Zeit gingen die Haymakers dazu über, Honor wie eine Stumme zu behandeln. Sie stellten ihr keine Fragen mehr und erwarteten auch nicht, dass sie sich an Gesprächen beteiligte. »Meine Frau hat das Schweigen der Andacht auf ihr ganzes Leben ausgeweitet.« Mit diesen Worten stellte Jack Honor einer neuen Familie vor, die sich in Faithwell niedergelassen hatte. In der Gemeinde wurde sie zu »der Stummen«, die lächelte und den Kopf senkte, wenn jemand etwas zu ihr sagte, das eine Antwort erfordert hätte. Jack kam in der Nacht nach wie vor zu ihr, doch er versuchte nicht mehr, ihr Vergnügen zu bereiten, sondern nahm sich nur, was er brauchte. Erst als ihr Bauch noch dicker wurde und sich wie ein harter runder Kürbis zwischen sie schob, verlangte er seltener nach ihr.
    Und auf gewisse Weise warHonor tatsächlich stumm. Ihre Kehle fühlte sich so eng an, dass ihr das Schlucken schwerfiel, obwohl sie sich zum Wohl ihres Kindes zum Essen zwang. Völlig verstummt war sie zwar noch nie, aber sie war schon immer still gewesen und empfand es nun als Erleichterung, einfach überhaupt nichts mehr sagen zu müssen. Wenigstens konnte jetzt nur noch ihr Schweigen falsch verstanden werden, aber nicht mehr ihre Worte. Und weil sie ihre Gedanken nicht mehr für andere in Worte fassen musste, hörte Honor nach einer Weile sogar zu denken auf und war einfach nur noch. Zum ersten Mal seit ihrer Kindheit konnte sie in der Andacht sitzen, ohne den Druck zu spüren, ihre Eindrücke und Gefühle in Gedanken zu pressen, die sie den Gemeindemitgliedern mitteilen konnte. Jetzt sah sie einfach zu, wie das Sonnenlicht durch den stillen Raum wanderte und die Staubpartikel aufleuchten ließ, die von den unruhigen Füßen der Freunde aufgewirbelt wurden. Sie lauschte auf die Insekten draußen und lernte, zwischen dem Zirpen einer Grille, dem Sägen einer Heuschrecke, dem Ticken eines Käfers und dem Summen einer Zikade zu unterscheiden. Sie nahm die Luftzüge wahr, die von einem Fenster zum anderen strömten, schloss die Augen und sog den Kleeduft von der Wiese neben dem Andachtsraum ein, den Geruch der ersten Heumahd, die auf den Feldern trocknete, und des Geißblatts, das um die Eingangstür rankte. Das Schweigen schien ihre Sinne zu schärfen. Es war ein anderes Gefühl als das Sichversenken vergangener Andachten, doch sie glaubte, dass auch dieses Gefühl eine Bedeutung hatte. Gott zeigte seine Gegenwart auf unterschiedliche Weise.
    Mit der Zeit begann sich Honor in ihrem Schweigen immer wohler zu fühlen. Wenn sie bei den Mahlzeiten am Tisch saß, auf der Veranda oder in der Andacht, spürte sie einen inneren Frieden, den sie als Sprechende nicht gekannt hatte. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es zwar keine bewusste Entscheidung gewesen war, mit dem Reden aufzuhören, aber trotzdem ihr eigener Entschluss. Sie hinterfragte ihn nicht, sondern akzeptierte die Stille als ein Geschenk.
    Doch mit ihrem Schweigen verärgerte sie nicht nur die Haymakers, sondern die ganze Gemeinde.

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