Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
einmal Vernunft gezeigt? Etwa, als er sich im Parlament gegen die Reform des Klerus ausgesprochen hat?« Sie ging zornig auf und ab, ballte die Fäuste. »Hat er Vernunft gezeigt, als er sich weigerte, die Petition an den Papst zu unterzeichnen?«
»Hättet Ihr ihn lieber in Ketten herbeizerren lassen, damit er Euch die Ehre erweist, Mylady? Der ›meistrespektierte Mann in ganz England‹? Welchen Eindruck, glaubt Ihr, hätte das auf Katherines Anhänger gemacht?«
Anne entging die Härte in seiner Stimme nicht. Sie blieb stehen, öffnete die Fäuste. Dann schloss sie die Augen und atmete tief durch, bemühte sich sichtlich um Selbstbeherrschung. Als sie ihm antwortete, war ihre Stimme wesentlich ruhiger.
»Ihr habt natürlich wie immer recht. Es ist nur so, dass ich, da unsere Hochzeit in einem solch kleinen Kreis stattgefunden hat, gern noch eine öffentliche Feier hätte, damit all Eure Untertanen sehen, wie glücklich ihr König ist. Außerdem sollen alle wissen, dass England schon bald einen Prinzen haben wird.« Sie ergriff seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Wenn sie mir weniger Respekt entgegenbringen, als einer Königin gebührt, mangelte es ihnen vielleicht auch an Respekt gegenüber … unserem Sohn.«
Sein Gesicht entspannte sich, und ein beinahe jungenhaftes Lächeln breitete sich darauf aus.
»Die Zeremonie wird so prunkvoll, dass Thomas Mores Abwesenheit keinem Menschen auffallen wird. Alle werden vom Glanz ihrer Königin geblendet sein.«
»Erzählt mir davon«, sagte sie plötzlich so gespannt wie ein kleines Kind, das eine Geschichte hören will. Bei dem Gedanken, dass ihr ganz London zu Füßen liegen würde, verflog ihr Zorn.
»Nachdem Cranmer Euch die Krone auf das Haupt gesetzt und die entsprechenden Gebete gesprochen hat, werdet Ihr in einer offenen Sänfte, die mit weißer Seide ausgeschlagen ist, durch die Straßen von London getragen werden. Ihr werdet unter einem mit Blumen und silbernen Glöckchen geschmückten seidenen Baldachin stehen und den Menschen zuwinken, die sich überall am Straßenrand drängen, um einen Blick auf ihre wunderschöne Königin werfen zu können. Ich werde auf meinem edelsten Ross vor Euch herreiten, um Euch zu schützen und Eure Ankunft anzukündigen.«
»Ja, ja?«, sagte Anne. »Weiter.«
Er kam näher und küsste ihren Hals, murmelte zwischen den Küssen, »Festspiele … bei jedem Halt … die Euer Lob singen … Kinderchöre … Trompeten …«.
Und ich in einem weißen Kleid, mit meinem dunklen Haar, das unter einem juwelenbesetzten Diadem offen über meine Schultern fällt, ich werde meinen begeisterten Untertanen zuwinken. Ich, die Tochter eines einfachen Ritters, werde dann endlich Königin von England sein.
Es war ein so wunderbares Bild, dass es ihr schier den Atem verschlug.
»Lasst uns zu Bett gehen«, sagte sie und nahm seine Hand.
Der Frühlingstag in Chelsea war frostig. So frostig wie Lady Alices Stimmung, dachte Sir Thomas, als er aus dem Fenster seines Studierzimmers auf den Fluss hinaussah. Seine Frau war nicht gerade erfreut darüber, dass sie der Feier in Westminster fernbleiben würden.
»Du bist noch immer Mitglied des Kronrats. Wir könnten die Krönung sogar von einem Ehrenplatz aus verfolgen.«
»Du würdest nicht ohne ein neues Kleid dorthin gehen wollen, und du weißt, dass wir uns einen solchen Luxus nicht mehr leisten können.«
»Wir sind nicht so arm, wie du immer behauptest. Ich habe noch immer gewisse Einnahmen, und du hast noch immer deine Güter in Oxfordshire und in Kent. Aber ich würde, wenn es dich beruhigt, auch eines meiner alten Kleider anziehen.« In ihren Augen konnte er jedoch sehen, dass sie sich keineswegs damit begnügen würde, und sie selbst wusste es auch.
»Und unsere Töchter – würden sie sich damit zufriedengegeben?«, fragte er.
Sie seufzte.
»Dass wir das Schauspiel verpassen, macht mir keine Sorgen. Ich kann durchaus damit leben hierzubleiben, wenn die Mätresse des Königs geehrt wird.« Sie streckte die Hand aus und berührte seinen Ärmel. »Aber der König wird diese Beleidigung durch einen Mann wie dich bestimmt nicht einfach so hinnehmen.«
»Einen Mann wie mich?« Thomas lachte. »Heinrich wird mein Fehlen nicht einmal bemerken. Ich habe keinerlei Bedeutung mehr für ihn.«
Allerdings bezweifelte Thomas seine Worte. Auch sein alter Freund Cuthbert Tunstall war offenbar dieser Meinung. Jedenfalls hatte er ihn bedrängt, doch zu der Feier zu gehen. Er hatte ihm sogar
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