Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
Green aufgebaut hatte, beobachtete John, wie die Barkasse der Königin die Themse heraufkam. Allerdings war er für die wärmenden Strahlen der Sonne auf seinem Gesicht dankbarer als für den Anblick des Festzuges. Der König hatte, als Akt der Wohltätigkeit und um den Neubeginn gebührend zu feiern, befohlen, dass einige ausgewählte Gefangene Augenzeugen der Ankunft der Königin sein durften, woraufhin Thomas Cromwell eine Liste erstellt hatte. Man hatte John und seinen Mitgefangenen grüne Fahnen in die Hand gedrückt und sie angewiesen, diese laut jubelnd zu schwenken, wenn die Barkasse der Königin vorbeifuhr.
Während er das in der Sonne glitzernde Wasser der Themse betrachtete, überlegte er, ob ein Mensch einen Sprung aus dieser Höhe überleben konnte. Wie viele der anderen, die ebenso nah an der Balustrade standen wie er, in diesem Moment wohl dasselbe dachten? Für John war das jedoch nichts anderes als ein Gedankenspiel. Kapitän Lasser hatte zwar schon einmal einen Fluchtplan erwähnt, aber John war sich inzwischen sicher, dass es seine Ehre beschmutzte und ihrer Sache schadete, wenn er nicht wenigstens versuchte, seine Überzeugungen zu verteidigen, da man ihn jetzt auch offiziell der Ketzerei angeklagt hatte. Abgesehen davon wäre ein solcher Sprung töricht. Auf der Mauer standen Bogenschützen. Er hätte schon einen Pfeil im Rücken, bevor er die Wasseroberfläche auch nur berühren würde.
»Das dort ist das Boot der Königin«, sagte der Kämmerer, der neben ihm stand. Er zeigte auf die größte Barkasse, die das Wappen des Königs trug.
Ihr folgten den Fluss hinunter, so weit das Auge reichte, die kleineren Barkassen der Londoner Zünfte. Mit ihren silberdurchwirkten, im Licht schimmernden seidenen Bannern im Grün-Weiß der Tudors boten sie ein überaus prächtiges Bild. Festliche Musik, immer wieder unterbrochen von den Salutschüssen der Kanonen, erklang bis hinauf zu den Gefangenen, als die Barkassen unter der Plattform vorbeifuhren.
»Und was ist mit der alten Königin?«, murmelte einer der Gefangenen.
»Es gibt keine alte Königin. Ihr meint wohl die ›Witwe des Prinzen‹«, spottete ein anderer. Ringsum ertönte lautes Gelächter.
»Es muss schön sein, König zu sein«, flüsterte ein Wärter einem Kollegen zu. »Ich habe auch eine alte Frau, die ich gern gegen ein süßes, junges Ding eintauschen würde.«
Die erste Barkasse fuhr jetzt in einem Bogen direkt auf den Tower zu.
»Jetzt! Da kommt sie!«, schrie der Wärter. »Jubelt! Schwenkt eure Fahnen!«
Vielstimmiger Jubel brach um John herum aus. Mitgerissen vom Sog des Augenblicks rief auch er: »Gott schütze die Königin« und schwenkte aus lauter Freude, seine Arme bewegen zu können, seine Fahne heftiger, als er es normalerweise getan hätte. Es war nicht so, dass er der neuen Königin ihren Triumph missgönnt hätte. Immerhin war auch sie eine Reformerin. Außerdem hatte sie ihm durch Master Cromwell ihre besten Grüße übersenden und ihm ausrichten lassen, sie hoffe auf den Tag, an dem Männer wie er in England unbehelligt leben könnten. Cromwell hatte angedeutet, dass dem König Johns hervorragender Ruf als Gelehrter durchaus bekannt sei. Sollte Master Frith eine zustimmende Abhandlung über seine zweite Ehe verfassen, würde man ihn feiern, anstatt ihn weiterhin einzukerkern. Bislang war John dazu jedoch nicht bereit gewesen. Ein Mann, selbst der König, sollte einen Schwur, den er vor Gott geleistet hatte, nicht leichtfertig brechen. In diesem Punkt – und nur in diesem Punkt – stimmte John mit Thomas More überein, der, wie es hieß, diese Hochzeit bedauerte, obwohl er mit dieser Ansicht seine Karriere beendet hatte. Auch wenn More, wie John vermutete, andere Gründe hatte als er. Einen Schwur zu brechen, war für More wahrscheinlich bei weitem nicht so schändlich wie der Umstand, dass eine katholische Königin zugunsten einer protestantischen verstoßen wurde.
Die neue Königin sah zu den Gefangenen auf der Plattform hinauf. Sie war zu weit entfernt, als dass John ihren Gesichtsausdruck erkennen konnte, aber aus ihren Bewegungen sprach die reine Freude, als sie Kusshände warf und mit beiden Armen fröhlich winkte. Er fragte sich, was Kate von diesem Schauspiel gehalten hätte. Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber er glaubte, dass sie für einen Augenblick die verlassene Königin Katherine bedauert hätte. Kate besaß ein gutes Herz, und es war durchaus möglich, dass sie sich ebenfalls verlassen
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