Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
fühlte. Sie hatte jedenfalls etwas in der Art zu ihm gesagt, als sie sich wegen seiner Reise nach England stritten, bevor sie sich bereiterklärt hatte, ihn fahren zu lassen.
Hatte er nicht auf vielfältigste Art und Weise gezeigt, dass er seine Frau liebte? Und dennoch: Er hatte sie alleingelassen, um einer Sache zu dienen, die für ihn wichtiger war als ein einzelner Mann oder eine einzelne Frau – die sogar größer war als seine Liebe zu Kate. Kapitän Lasser hatte ihm vom Tod des Kindes berichtet. John erinnerte sich noch gut daran, wie schmerzlich der Verlust schon das erste Mal für Kate gewesen war, und es betrübte ihn sehr, dass er diesmal nicht bei ihr gewesen war, um sie zu trösten. Er dankte Gott für Tom Lasser. Er war ein wirklich guter Freund.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne, verwandelte das glitzernde Wasser plötzlich in eine stumpfe, graue Fläche. Der Aprilwind war mit einem Mal kalt und beißend. Die Prozession war weitergezogen.
»Das Schauspiel ist vorbei. Zeit, wieder hineinzugehen«, sagte der Wärter.
John reihte sich in die Schlange ein, um in seine düstere Zelle zurückzukehren. Petite war inzwischen freigelassen worden, und obwohl John froh darüber war, war jetzt niemand mehr da, mit dem er sich in dunkler Nacht flüsternd unterhalten konnte.
Anne Boleyn fauchte den König an, wohl wissend, dass er ihre Wutanfälle hasste. Seit sie schwanger war, hatte sie ihre Emotionen offensichtlich nicht mehr im Griff. Es war fast so, als hätte sich mit Heinrichs Samen ein Dämon in ihr eingenistet. Sie schleuderte den mit Goldintarsien versehenen Gehstock quer durch das Privatgemach, auch wenn sie ihn am liebsten Thomas More auf den Kopf geschlagen hätte, der diesen Stock, als er noch Kanzler war, dem König als Neujahrsgeschenk überreicht hatte.
»Der fromme, heuchlerische Thomas More weigert sich also, zum Festmahl anlässlich meiner Krönung zu erscheinen! Und Ihr steht einfach da und lasst zu, dass Eure Königin derart beleidigt wird?«
Ihre Fahrt auf der Themse war sowohl sehr aufregend als auch überaus erfreulich gewesen. In jedem Dorf hatten die Menschen die Ufer gesäumt, hatten ihr von den Kais und Anlegestegen aus gehuldigt. Alle hatten sie gesehen, selbst die Männer auf der Mauer des Tower-Gefängnisses, als sie winkend und lachend im Bug des Bootes stand, während das Sonnenlicht das Geschmeide an ihrem Hals und die aufgenähten Perlen, die in perfekten Mustern ihre Ärmel schmückten, glitzern und funkeln ließ.
Das anschließende Festessen war jedoch bei weitem nicht so zufriedenstellend verlaufen. Sie hatte sich unwohl gefühlt, die Anspannung gespürt, als die Höflinge immer wieder verstohlene Blicke wechselten. Alle hatten sich vor ihr verbeugt, manche jedoch mit unübersehbarem Spott in den Augen, während Heinrich alles genau beobachtet und mit wachsamem Blick und gespitzten Ohren auf jede, wenn auch noch so unbedeutende Kränkung gelauert hatte. Charles Brandon hatte man deswegen bereits des Hofes verwiesen. Während Erzbischof Cranmer vor den versammelten Adeligen und Bischöfen in glühenden Worten von der Liebe der neuen Königin zum König und ihrer ebenso großen Liebe zu England sprach, hatte Anne von ihrem Platz auf dem Podium aus eine Art Bestandsaufnahme gemacht. Sie ließ ihren Blick langsam über die Tafel schweifen, die für den Kronrat reserviert war. Thomas More glänzte durch Abwesenheit.
Heinrichs Anspannung war auch nach dem Festessen noch nicht von ihm abgefallen, was sich in seinem starren Gesicht und seinem barschen Tonfall bemerkbar machte, als er ihr auf ihre Frage hin antwortete:
»Thomas More ist nicht von Bedeutung.« Er hob den Spazierstock auf und betrachtete ihn nachdenklich, kratzte mit dem Finger an der Einlegearbeit, bis sich ein Stück davon löste. Er legte den Stock achtlos beiseite. »Wie Ihr wisst, ist er nicht mehr Kanzler.«
»Natürlich ist es von Bedeutung! Er gehört noch immer dem Kronrat an und ist wahrscheinlich der meistrespektierte Mann in ganz England. Denkt an meine Worte – seine Abwesenheit wird auffallen, und man wird darüber sprechen. Und das wiederum wird Katherines Anhängern Mut machen.«
»Wenn Master More über alles noch einmal nachdenkt, wird die Vernunft siegen. Er hat sich entschuldigt. Er sagte, er sei krank. Aber bei Eurer Krönung in Westminster wird er anwesend sein.«
Sie wurde wieder wütend, weil er ihre Ängste so lässig abtat: »Vernunft?«, rief sie. »Wann hat er denn schon
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