Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
vernünftig denkende Mensch die Fehler in der Logik erkennen. Es war die mit Abstand armseligste Schrift aus Mores Feder, die ihm je untergekommen war. Aber dann war ihm schlagartig bewusst geworden, was die Existenz eines solchen Dokuments bedeutete. Wenn More auf seine Abhandlung über die Eucharistie antwortete, konnte das nur heißen, dass ihm Johns Predigt vorlag. Er war verraten worden! Er hätte diesem Schneider niemals trauen dürfen. Er hätte sich Tyndales Warnung, sich gerade zu diesem Thema nicht schriftlich zu äußern, zu Herzen nehmen sollen. Thomas More hatte ihm eine Falle gestellt, und er, John, war wie ein Narr geradewegs hineingetappt. In der letzten Woche hatte er ausreichend Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was das bedeutete.
»Lasst uns allein«, wies Cromwell den Kämmerer an. »Und schließt die Tür hinter Euch. Ich werde Euch rufen, wenn ich hier fertig bin.«
»Ihr bringt vermutlich keine guten Neuigkeiten«, sagte John zu seinem Besucher.
Cromwells Stirn legte sich in Falten.
»Dem König liegt ein Exemplar Eurer Predigt vor.«
»Ich frage mich, wie das geschehen konnte«, sagte John.
»Seine Majestät mag sich dem Papst widersetzt haben, aber er wird niemals so weit gehen, die heilige Messe in Frage zu stellen. Erzbischof Cranmer hat bereits den Termin für Euren Prozess wegen Ketzerei festgesetzt. Jetzt kann auch ich nichts mehr für Euch tun.« In seinem Ton lag mehr Anklage als Mitleid. »Jetzt, da Ihr Euren Feinden die Fackeln in die Hände gegeben habt, mit denen sie Euren Scheiterhaufen entzünden werden.«
»Was ist mit der Königin?«
»Die Königin ist durch ihre Schwangerschaft sehr in Anspruch genommen. Außerdem leidet sie sehr darunter, dass sie von der breiten Masse der Bevölkerung nicht als ihre rechtmäßige Herrscherin akzeptiert wird. Es geht das Gerücht, dass sie sich mit dem König gestritten hat. Meiner Meinung nach wird sie trotz ihrer Sympathie für Euch und Eure Ansichten nicht bereit sein, zu Euren Gunsten zu intervenieren. Die Beweise gegen Euch sind einfach erdrückend.«
Ein Rabe landete auf dem Fensterflügel und pickte mit einer ruckartigen Kopfbewegung nach einem unglücklichen Insekt. Dann sah er in die Zelle und flog heiser krächzend davon.
»Wird man mich foltern?« John vermied es, den Minister in die Augen zu sehen. Er wollte nicht, dass er die Angst in seinem Blick sah. War es eine Sünde, Furcht zu empfinden?
Cromwell blieb ernst, aber das erste Mal, seit er die Zelle betreten hatte, sprach aus seiner Haltung Mitgefühl.
»Nein, da Cranmer jetzt das Sagen hat und Mores Einfluss immer mehr schwindet. Nach dem neuen Gesetz kommt auch Stokesley nicht an Euch heran. So wie ich es sehe, könnt Ihr zwischen drei Möglichkeiten wählen.« Er legte John die Hand auf die Schulter. »Ihr könnt widerrufen. Das bedeutet, Ihr müsst alles, was Ihr geschrieben habt, als Irrtum bezeichnen, die Doktrin der wahren Gegenwart bei der Eucharistie anerkennen und Euch der Kirche auf Gnade und Ungnade ausliefern. In diesem Fall wird man Euch, nachdem man Euch in aller Öffentlichkeit der Lächerlichkeit preisgegeben hat, wahrscheinlich gestatten, zu Eurer Frau nach Antwerpen zurückzukehren.« Er hielt inne und fügte in schonungsloser Offenheit hinzu: »Oder Ihr werdet brennen.«
Das entsprach genau den Überlegungen, die John in dieser Woche angestellt hatte. Und er wusste auch schon, welchen Weg er, wenn Gott ihm den dazu nötigen Mut gab, wählen würde. Ihm hatte dazu nur noch eines gefehlt, und genau das hatte Tyndale ihm ironischerweise in ebenjenem Brief geliefert, in dem er ihn noch einmal dringlich gewarnt hatte, nichts über die Eucharistie zu schreiben. In den Briefen, die er mit Kate gewechselt hatte, hatten sie das Thema Hinrichtung tunlichst vermieden, so als fürchteten sie, sie könnte dadurch zur Wirklichkeit werden. Sie hatten nur von ihrer Liebe und ihrer Sehnsucht geschrieben. Tyndale aber hatte in einem seiner ersten Briefe dieses Thema angesprochen. In diesem Brief hatte er auch auf Johns Frage geantwortet, wie Kate seine Inhaftierung aufnehme. Sie wolle nicht, dass er ihretwegen seinen Glauben verleugnet, das hatte Tyndale wörtlich geschrieben. Er könne sich frei entscheiden. Aber was für eine Freiheit ist das, dachte John, wenn ich mich wie der Apostel Paulus dazu bekannt habe, ein Knecht Christi zu sein?
Es war sehr still in der Zelle. Cromwell schwieg und wartete, während John über diese beiden Möglichkeiten noch einmal
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