Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
war in den verschlungenen Anfangsbuchstaben eingefügt, der sich in leuchtenden Rot- und Blautönen und einer Spur von Gold am Rand der Seite hinunterzog. Darüber war das Gesicht von Miriam zu sehen, Moses’ Schwester, die in den Korb hineinschaute. Dem längst verstorbenen Künstler war es vortrefflich gelungen, den tiefen Ausdruck der Liebe einzufangen, die Miriam für ihren kleinen Bruder empfand. Es war ein wunderschönes Gesicht. Kate fragte sich, wer für dieses Bild wohl Modell gestanden haben mochte. Die Frau sah anders aus als die Frauen, die Kate kannte – irgendwie exotisch. Lange dunkle Haare rahmten das Gesicht mit den mandelförmigen Augen ein. Die Haut schimmerte in einem hellen Braun.
Wie sollte sie es nur über sich bringen, ein solches Buch zu verkaufen?
Mit Tränen in den Augen saß sie noch lange auf den kalten Steinen des Kamins. Sie dachte an Pipkin und an sein Lämmchen. Sie hätte vielleicht doch lieber ihren Bruder und seine Familie begleiten sollen. Aber das hatte sie einfach nicht gekonnt. Nur mit Pipkin und seinem Lämmchen als Gesellschaft und ohne ihre Bücher und den Kontakt zu belesenen Menschen würde sie schneller verdorren als eine Blume im Winter. Und das Schlimmste für sie wäre, von der Wohltätigkeit anderer abhängig zu sein. Gefangen in ihrer eigenen, so grauen Einsamkeit, blätterte sie ohne die bunten Farben der Miniaturen richtig wahrzunehmen, geistesabwesend weiter, als sie plötzlich auf ein Stück gefaltetes Pergament stieß. Es steckte so fest zwischen den Seiten, dass sie zuerst glaubte, es wäre ein gebundenes Blatt. Als sie vorsichtig daran zog, löste es sich.
Sie strich sich über die Augen. Während die Neugier ihr Selbstmitleid verdrängte, faltete sie das vergilbte Pergament auseinander und kniff die Augen zusammen, um die verblasste Schrift entziffern zu können. Es waren nur ein paar Zeilen in der ihr vertrauten Handschrift, in der auch die Bibel geschrieben war. Sie waren wie ein Gedicht in der Mitte der Seite angeordnet.
Meine liebste Anna, bewahre diese Worte bitte so lange in deinem Herzen, bis du sie wirklich glaubst: »Allen wird es gut gehen, und alles wird gut. Denn dies ist die große Tat unseres Herrgotts, durch welche Er Sein Wort in allen Dingen bewahren wird – Er wird alles gut machen, was nicht gut ist.« Dies sind die Worte einer heiligen Frau, die ich einst kannte. Jetzt, da ich ein alter Mann bin, verstehe ich sie besser – wenn auch noch immer nicht vollkommen. Ich habe so viele Jahre damit verbracht zu trauern, dass ich manchmal vergessen habe, welcher Schatz mir mit dir geschenkt wurde. Ich hoffe, dass du diese Worte eines Tages ebenfalls verstehen wirst. Ich hoffe, du weißt, dass ich dich immer geliebt habe. Du warst in meinem Leben die Erfüllung dieses Versprechens.
Dein dich liebender Großvater Finn.
Kate warf einen Blick auf das Datum: 14. Juni 1412 – das war vor mehr als hundert Jahren. Plötzlich interessierte sie diese Anna. Wer war sie? Hatte sie alle Dinge gut vorgefunden? Hatte sie diesen Brief überhaupt gelesen? Kates Familie jedenfalls hatte ihn in all den Jahren, die sie diese Bibel in Besitz hatte, nicht entdeckt. War er wirklich über ein Jahrhundert lang dort versteckt gewesen, vielleicht war die Botschaft sogar für sie, Kate, bestimmt, obwohl sie eigentlich an Anna gerichtet war.
Durch welche Er Sein Wort in allen Dingen bewahren wird , so stand es in dem Brief. Wie würde John das verstehen? Würde er den Hinweis auf das »Wort« als Bestätigung auffassen, oder würde er ihn als Tadel verstehen? Er hatte ja tatsächlich die Tradition der Familie fortgeführt, das Wort zu bewahren – zumindest bis vor kurzem. Oder bezog sich der Begriff »Wort« auf ein Versprechen, das mehr mit der Hoffnung zu tun hatte, die das Wort Gottes vermittelte, als mit dem tatsächlichen Aufbewahren der Bibel? Eine wahrlich rätselhafte Botschaft, da sie den Verfasser und diese Anna nicht kannte. Aber jedenfalls war der Mann ein Vorfahr von ihr gewesen.
Sie wickelte die prächtige Bibel in das Leintuch ein und versteckte sie dann wieder unter dem Kamin. Dann stellte sie einen großen gusseisernen Topf über den lockeren Stein. Auch den Brief versteckte sie. Sie würde ihn behalten, selbst wenn sie gezwungen war, die Bibel zu verkaufen. Es war ein Geschenk aus der Vergangenheit, das ihr Mut machte. »Allen wird es gut gehen«, wiederholte sie, »Er wird alles gut machen.« Kate aber brauchte hier und jetzt etwas, das ihr
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