Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
bisschen Leben in sein Gesicht. Schmerz ist immer noch besser als gar kein Gefühl, dachte sie.
Er sah weder seine Frau noch sie an, als er antwortete, sondern starrte, wie er es im Gefängnis getan hatte, auf den Boden.
»Marys Vater hat uns angeboten, dass wir bei ihm und seiner Frau in Gloucestershire wohnen können.«
Er hörte sich so endgültig an. Sein Ton klang vollkommen resigniert. Kate wurde plötzlich von einer furchtbaren Angst ergriffen, so als müsse sie zusehen, wie ein schnell dahinfließender Strom ihn von ihr fortriss und er sich nicht einmal dagegen wehrte.
»Du meinst, wir sollen das Geschäft unseres Vaters einfach aufgeben?«, flüsterte sie ungläubig. »Für immer? Wir sollen nach Gloucestershire ziehen und … und was tun?«
Mary, die ihren quengelnden Sohn auf ihren Knien hatte reiten lassen, setzte ihn auf den Boden und legte ihrem Mann den Arm um die Schultern, so als wolle sie ihn vor ihr beschützen.
»Es wird nur für eine Weile sein, Kate. Gloucestershire ist wirklich eine nette Gegend. Und dort gibt es auch nicht diese ständigen Anfeindungen wegen der Religion. Und im Umkreis von hundert Meilen keinen einzigen Bischof. Und die Luft ist viel besser als hier in London. Sie wird Pipkin guttun. Du kannst mit uns kommen. Meine Eltern haben reichlich Platz. Sie haben mich gebeten, dir zu sagen, dass auch du herzlich willkommen bist. John wird meinem Vater bei der Arbeit helfen. Sein Rücken macht ihm in letzter Zeit sehr zu schaffen.«
Kate platzte heraus:
»John? John soll Schafe hüten?« Aufgrund des flehentlichen Ausdrucks auf Marys Gesicht bereute sie ihre Worte auf der Stelle. »Nun, ich denke, die frische Luft wird auch ihm guttun«, fügte sie matt hinzu.
»Gut. Dann ist das also geklärt.« Mary schenkte ihnen ihr tapferstes Lächeln. »Wirst du uns begleiten?«
Kate schüttelte stumm den Kopf. Sie konnte kaum glauben, was sie da gehört hatte.
»Das ist wirklich sehr lieb von deinen Eltern, Mary. Aber ich glaube, ich werde noch eine Weile hierbleiben und auf das Geschäft aufpassen. Ich habe noch ein wenig Geld, und ein oder zwei Dinge kann ich auch noch verkaufen. Damit komme ich zumindest über den Sommer. Wer weiß, was bis dahin geschieht?«
»Aber du wirst uns doch besuchen kommen? Sag ihr, dass sie uns unbedingt besuchen muss, John.«
John hob den Kopf und sah sie an. Die Leere in seinem Blick ängstigte sie mehr als alles andere.
»Du musst uns unbedingt besuchen kommen«, sagte er.
Schon bald stellte sich heraus, dass das Einzige, was Kate noch zu verkaufen hatte, die Wycliffe-Bibel war. Sie war ein Erbstück ihrer Urgroßmutter Rebecca, das diese bereits ihrer Tochter Becky vermacht hatte. Kate hatte ihre Großmutter Becky zwar nie kennengelernt, aber die große Bibel hatte sie schon als Kind heiß und innig geliebt. Die Wörter mit ihrer seltsamen Schreibweise, die über die dicht beschriebenen Seiten zu kriechen schienen, hatten sie dabei genauso fasziniert wie die kleinen Bilder an den Rändern. Diese Bibel war anders als die Bücher, die aus der Druckerpresse kamen. Sie war von Hand geschrieben, vermutlich von einem längst verstorbenen Verwandten, einem Illuminator, der vor über hundert Jahren in Böhmen gelebt hatte.
Nachdem an diesem Julimorgen John und Mary mit dem kleinen Pipkin, der sich an ihr festgeklammert hatte und sie erst losließ, als man ihm ein Lämmchen versprach, nach Gloucestershire aufgebrochen waren, holte Kate die Bibel aus ihrem Versteck unter einem lockeren Stein im Kamin hervor. Wer würde sich für so etwas interessieren?, dachte sie, als sie das Leintuch entfernte, in das die Bibel eingeschlagen war, und mit der Hand über den punzierten Ledereinband strich. Nur wenige Menschen würden sie sich überhaupt leisten können. Aber wer von ihnen würde es in derart gefährlichen Zeiten riskieren, eine solche Bibel zu besitzen?
Sie schlug sie vorsichtig auf, erinnerte sich daran, wie stolz ihr Vater stets gewesen war, wenn er sie ihr gezeigt hatte. Dann hatte man ihn verhaftet, und ihre Mutter konnte es nach seinem Tod einfach nicht mehr ertragen, die Bibel auch nur anzusehen. Die Seite, die Kate jetzt aufschlug, zeigte eine in leuchtenden Farben ausgeführte Miniatur von Moses in seinem Körbchen, das den blauen Nil hinuntertrieb. Alles war genau zu erkennen – sein perfektes Babygesicht, jede Binse des Korbes war unglaublich genau dargestellt, dass Kate fast meinte, die Textur des Schilfes spüren zu können – und all das
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