Die Enklave
über einen toten Freak gebeugt, Pearl lag daneben in einem Regal – teilweise aufgefressen. Sie hatte versucht wegzurennen und dabei die Aufmerksamkeit des Monsters auf sich gezogen. Während wir anderen kämpften, hatte es sie in aller Ruhe verspeist. Diese hier waren wirklich schlauer als die anderen. Wäre der Freak klug genug gewesen zu verschwinden, bevor der Kampf vorüber war, hätten wir ihn nie erwischt.
»Komm«, sagte ich. »Du kannst ihr nicht mehr helfen.«
»Sie ist gestorben, weil sie uns erlaubt hat, die Karten ihres Vaters anzuschauen.«
Das stimmte. Wir hatten Pirscher zu ihrer Tür geführt, und nachdem wir gegangen waren, hatte er sie eingetreten und Pearl mitgenommen. Ich hatte keine Worte des Trostes für Bleich.
Wir stießen wieder zu den anderen. Wegen Tegan machte ich mir keine Sorgen mehr, denn Pirscher hatte alle Hände voll damit zu tun, den verwundeten Wolf aus der Bibliothek zu schaffen, bevor noch mehr Freaks auftauchten. Und egal wie niedergeschlagen Bleich auch sein mochte, das musste jetzt auch unser oberstes Ziel sein.
»Sie werden die ganze Stadt überrennen«, sagte ich leise. »Immer mehr von ihnen werden den Weg nach Oben finden und nach etwas zu fressen suchen.«
»Es ist Zeit zu verschwinden«, stimmte Tegan mir zu.
Ich wich den Haufen von Kadavern auf dem Boden aus, und trotzdem hinterließ ich blutige Fußspuren auf meinem Weg zur Tür. Tegan folgte mir, und nach ein paar Augenblicken
setzte sich auch Bleich in Bewegung. Auf halbem Weg holte Pirscher uns ein, den letzten verbliebenen Wolf mehr oder weniger hinter sich her schleifend.
»Wohin verschwinden?«, fragte er.
Eigentlich wollte ich es ihm nicht sagen, aber er hatte uns gegen die Freaks geholfen. »Nach Norden. Außerhalb der Ruinen sollen die Dinge besser stehen.«
»Wer sagt das?«
»Mein Dad«, erwiderte Bleich leise.
»War er so was wie ein Holocaust-Experte?«, fragte Pirscher spöttisch.
Bleich zuckte die Achseln. »Er hatte eine Menge Bücher.«
Ich hatte nicht vor, dies in einen Streit ausufern zu lassen, hier mitten auf den Stufen. Wir hatten noch einen langen Weg vor uns und wussten nicht einmal genau, wohin er uns führen würde. »Wo liegt Norden?«
Bleich fingerte an seiner Uhr herum und deutete dann in eine Richtung. »Da lang.«
»Dann lasst uns marschieren, bis die Sonne aufgeht. Soll das Licht unsere Pausen bestimmen.« Pirscher und sein Wolf brauchten nichts von meiner Angst mitzubekommen.
Bleich schaute mich kurz an, dann nickte er. »Los.«
»Wir kommen mit«, sagte Pirscher.
Tegan erstarrte. »Nein! Wenn du’s versuchst, bring ich dich im Schlaf um, das schwöre ich.«
»Was ist mit deinen Welpen?«, fragte ich.
»Gut möglich, dass sie bereits aufgefressen sind. Wenn diese Dinger hier überall herumlaufen, nützt es meinen Welpen auch nichts, wenn ich auf dem Weg zurück selbst gefressen werde.«
Seide wäre begeistert gewesen. Pirscher war die Verkörperung des ersten Lehrsatzes der Jäger: Die Starken überleben. Ein Teil von mir hasste ihn für das, was die Wölfe Tegan angetan hatten, aber die Jägerin in mir fragte sich, warum sie nicht einfach bis zum Tod gekämpft hatte. Und ich bewunderte die Art, wie erbarmungslos er mit diesen Messern kämpfte, die wie eine Verlängerung seiner Hände waren.
Ich schaute Bleich an. »Entscheide du.«
» Wir können einen zusätzlichen Kämpfer gebrauchen«, sagte er. »Es könnte ein harter Marsch werden.« Er blickte zu dem Wolf hinüber. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob er es schafft.«
Bleich sprach das Offensichtliche nicht aus: dass die blutenden Wunden nur noch mehr Freaks anziehen würden. Wenn sie selbst in dem Gestank unten in den Tunneln frisches Fleisch riechen konnten, musste es hier, in der sauberen, klaren Luft, geradezu wie eine Einladung auf sie wirken. Gespannt wartete ich auf Pirschers Reaktion, wollte wissen, wie weit sein Pragmatismus ging. Seine Welpen ließ er ohne zu zögern im Stich, aber wie sah die Sache bei dem Wolf aus?
Die Frage wurde unwichtig, als der Junge in Pirschers Armen keuchend nach Luft schnappte. Blut lief ihm aus dem Mund. Wir legten ihn auf die Stufen, und als ich sein zerfetztes Hemd beiseiteschob, sah ich, dass es viel schlimmer war, als wir zuerst angenommen hatten. Als Balg hatte ich oft Jäger mit Verletzungen im Bauchraum behandelt, weil keiner außer mir es tun wollte. Sie waren alle gestorben. Manchmal dauerte es lange, aber bei den Verletzungen, die ich sah, gab es keine
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