Die Entdeckung der Landschaft - Einführung in eine neue Wissenschaft
knüpfte dabei oft in idealisierender Weise an ältere Traditionsstränge an. Ländliche Siedlungen des 19. Jahrhunderts unterscheiden sich – entgegen oft geäußerter Vermutungen – grundlegend von solchen des Mittelalters; die meisten Bauten in für traditionell gehaltenen Dörfern sind im Zusammenhang mit Landreformen entstanden. Seit dem 18. Jahrhundert wurde nicht wieder natürlicher Wald eingerichtet; er ist unter kulturellem Einfluss entstanden und weist eine grundsätzlich andere Zusammensetzung an Baumarten auf als ein natürlicher Wald, der Wald der Römerzeit oder des Mittelalters. Industrie und ländliche Welt bilden nicht in jeder Hinsicht ein Gegensatzpaar; letztendlich verdankt sich der tiefgreifende und den Wohlstand mehrende Umbau von Dörfern, Agrarflächen und Wäldern dem Einfluss der Industrialisierung.
Natur wurde oder wird auch heute nicht von Industrie oder Technik zerstört oder beeinträchtigt (alle drei Begriffe werden hier plakativ, als Metaphern verwendet): Vielmehr wirken natürliche Prinzipien des Werdens und Vergehens fort, ganz gleich, ob es Industriebetriebe gibt oder nicht. Die Entwicklung von Natur konnte und kann durch menschlichen Einfluss stets in neue Richtungen gelenkt werden. Jede Aktion, die vom Menschen ausgeht, hat Einfluss auf die Ausprägung von Landschaft. Dies gilt beispielsweisegenauso für das Klima; doch in der Landschaft sind diese Auswirkungen viel direkter festzustellen. Diese Aussage lässt sich mit vielen Beispielen belegen, die einen großen Nachteil haben: Sie scheinen banal zu sein. Es hat aber bereits Auswirkungen auf Landschaft, ob man seinen Garten verwildern lässt oder den Rasen mäht, ob man Bäume schneidet und Obst erntet. Jeder wirkt also an der Formung des Bildes von Landschaft zwangsläufig mit. Alles, was er tut oder nicht tut, kann sich auf das Aussehen von Landschaft auswirken.
Dies gilt genauso für die Entwicklung des Weltklimas, die derzeit von vielen Menschen als das bedrohlichste Umweltproblem angesehen wird. Doch wer bei seinen Aktionen an Landschaft denkt, sieht die Folgen seines Tuns viel unmittelbarer: Selbstverständlich wird für einen Apfel aus dem eigenen Garten oder der unmittelbaren Nachbarschaft weniger Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre abgegeben als für einen anderen, der in einem entfernten Kontinent wächst, dann Tausende von Kilometern in einem Flugzeug oder einem Kühlcontainer über den Ozean transportiert und über ein filigranes Netz von sogenannter «Transportlogistik» in den Supermarkt vor Ort geliefert wird. Dass dieses von Millionen von Menschen praktizierte Konsumverhalten direkte Auswirkungen auf die Landschaft hat, ist mit Sicherheit leichter zu verstehen, als wenn man auf dessen Folgen im Rahmen der Entwicklung des Weltklimas verweist. Dabei kommt es nicht darauf an, gewissermaßen eine Konkurrenzsituation zwischen einer «Klimaproblematik» und einer «Landschaftsproblematik» zu sehen, sondern es geht um die Sensibilisierung für Probleme, die –wie sich ja immer wieder gezeigt hat – in einem systemischen Zusammenhang stehen. Das Agieren des Menschen hat viel direkter wahrnehmbare Auswirkungen auf das Aussehen von Landschaft als auf das Klima. Diese Tatsache ist Teil der Brisanz des Klimaproblems. Doch das Klimaproblem bekommt man nur dann in den Griff, wenn Menschen überall Folgen ihres Tuns sehen: Und das ist in der Landschaft jederzeit unmittelbar möglich.
In der Landschaft wirken sich Wandlungen und Neuformungen der systemischen Zusammenhänge zwischen Landnutzungund Landschaft viel stärker und direkter aus als kleinere Klimaschwankungen. Heutige Veränderungen von Landschaft gehen vor allem von der immer stärker werdenden Divergenz zwischen Gebieten mit Nutzungsintensivierung und anderen aus, in denen Nutzung aufgegeben wird. [156] Viele Umweltveränderungen, die als Folgen des Klimawandels gedeutet wurden [157] , können ebenfalls auf die Veränderung der Intensität oder auch lediglich der Art und Weise des menschlichen Eingriffs zurückgehen.
Der landschaftswissenschaftliche Standpunkt geht einerseits von einfachen Zusammenhängen aus. Andererseits ist zu klären, inwieweit er den Standpunkten von Biologie, Geographie, historischen, philologischen und philosophischen Fächern entspricht und wo Widersprüche bestehen. Da in der Landschaft Spuren der Veränderungen von Natur ebenso zu erkennen sind wie Relikte von Strukturen, die auf jahrtausendelange menschliche Gestaltung
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