Die Entdeckung der Landschaft - Einführung in eine neue Wissenschaft
sich selbst überlassen möchte, um natürliche Entwicklungen wie eine Sekundärsukzession zuzulassen. Diese Frage stellt sich nicht, wenn das geschützte Gebiet zuvor allein oder überwiegend unter natürlichem Einfluss stand. Das ist bei einem Gebiet im Regenwald oder bei einem Korallenriff der Fall. Der Zustand jedes Gebietes in Mitteleuropa, das unter Schutz gestellt wird, ist aber bislang nicht allein von Natur, sondern auch und in vielen Fällen sogar entscheidend von Landnutzung geprägt. Daher muss sogar überlegt werden, wie die Bedingungen von Landnutzung im geschützten Gebiet fortgesetzt werden können, um dessen Charakter zu bewahren.
Das Vorhaben, ein Gebiet in einem Zustand zu belassen, wie er sich im Zusammenhang eines überkommenen Systems der Landnutzung herausgebildet hatte, lässt sich nur mit großem Aufwand realisieren. Dazu werden Arbeitskräfte und erhebliche Geldmittel benötigt, auch übrigens der Einsatz von fossiler Energie, beispielsweise beim Betrieb von Traktoren, Mähwerken und Motorsägen. Vergleichsweise wenig Aufwand erfordert dagegen die Umsetzung eines von vielen Naturschützern geforderten Wildniskonzeptes, wobei ein Schutzgebiet sich selbst überlassen wird. Der sich dann über eine Sekundärsukzession herausbildende Wald steht im Zusammenhang eines Systems von Landnutzung, das auf Intensivierung an dem einen Ort, aber Marginalisierung und Aufgabe der Nutzung an einem anderen beruht. Für die Umsetzung eines Wildniskonzeptes sind erheblich weniger Arbeitskräfte und Geldmittel erforderlich. Dies spricht immer wieder für die Umsetzung eines solchen Konzeptes. Aber dadurch werden sowohl viele Eigenheiten von Landschaft als auch zahlreiche Arten von Tieren und Pflanzen nicht geschützt, die nur deswegen an einem Standort vorkommen, weil dort auf bestimmte Weise Landnutzung betrieben wurde. Würden sämtliche Naturschutzgebiete sich selbst überlassen werden, wären so gut wie alle Pflanzen- und Tierarten von lichten Wäldern, vor allem ehemaligen Hude-, Nieder- und Mittelwäldern, von Streuobstwiesen, Heideflächen,Magerrasen und Streuwiesen am Rand von Mooren unmittelbar vom Aussterben bedroht. Insgesamt steht damit das Ziel, die Entwicklung von Wildnis zu fördern, einem anderen Ziel konträr entgegen, nämlich dem, kulturelle Werte von Landschaft mit deren Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten zu bewahren.
Ein System, das auf Zentralisierung und Intensivierung der Nutzung in den einen Gebieten und einer Marginalisierung von anderen beruht, stößt bei vielen Menschen auf keine Akzeptanz. Denn sowohl die Intensivierung als auch die Marginalisierung von Gebieten ist mit dem Verlust von vertrauter Landschaft verbunden, auch von emotionalen Werten, etwa dem, was man «Heimat» nennt.
Nicht nur die begrenzte Verfügbarkeit von fossilen Energierohstoffen kann also den Kollaps dieses Systems auslösen. Viele seiner Schwächen hängen damit zusammen, dass es weitgehend unter technokratischen, auch totalitären Gesichtspunkten geplant wurde: Alle Diktaturen des 20. Jahrhunderts förderten die Ideen von geplanter Mobilität über große Distanzen, die Versorgung durch Großkraftwerke und die Schaffung immer noch größerer Agrarflächen. Die real vorhandenen Potentiale von Landschaften wurden zu wenig beachtet, und es wurde versucht, ein System als Ganzes innerhalb von kurzer Zeit durchzusetzen. Beides entspricht nicht den Mechanismen, die bei früheren Einführungen von neuen Systemen der Landnutzung und den davon hervorgerufenen Entwicklungen in Landschaften wirksam wurden. In früheren Zeiten wurde stets von den Potentialen der Landschaft ausgegangen, stets wurde mit kleinen Einzelmaßnahmen der Innovation begonnen, aus denen sich erst später ein neues System von Landnutzung zusammensetzte. Die Frage wird sein, ob dies nicht auch heute der erfolgreichere Weg der Durchsetzung einer neuen Form von Landnutzung sein könnte. Fest steht jedenfalls, dass die Zukunft von Landnutzung, Landschaft und der systemische Zusammenhang zwischen beiden keineswegs geklärt ist, sondern intensiver Erforschung und Erörterung bedarf.
17 Aufgaben der Landschaftswissenschaft
Standpunkte zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur
Die «Erfindung» von Landwirtschaft war wohl die folgenreichste Entdeckung der Menschheit. Neben zahlreichen natürlichen Faktoren, die das Aussehen von Landschaft beeinflussen, prägt die Landnutzung deren Bild seitdem immer stärker. In jeder Landschaft sind Einflüsse von
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