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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Anschleichen bei der Jagd. Die
Weißen rannten schleunigst nach ihren Gewehren. John rief: »Laden und Sichern,
aber kein Schuß, auch kein Warnschuß oder einer aus Versehen. Es wäre alles
verloren.«
    Offenbar hatten die Eskimos jede Bewegung verfolgt, denn die Boote
machten eine Wendung von rund neunzig Grad, synchron wie ein Fischschwarm, und
steuerten auf eine Küstenspitze zu, die etwa vierhundert Yard von den Briten
entfernt lag.
    Â»Ich gehe mit Augustus allein hin«, sagte John ruhig. »Wenn mir
etwas zustößt, hat Dr. Richardson das Kommando.
    Â»Und wenn man Sie als Geisel nimmt, um an uns heranzukommen und
schließlich alle umzubringen?« fragte Back.
    Â»Wir müssen ihre Geister für uns haben«, antwortete John. »Ach was!
Tun Sie, was ich sage!«
    Augustus erhielt die Anweisung, zwei Schritte hinter John zu
bleiben. Sie gingen so langsam wie Akaitcho in Fort Providence, vielleicht noch
langsamer. Von Akaitcho und Matthew Flinders hatte John gelernt, was einen Häuptling
ausmachte.
    Die Eskimos standen inzwischen an Land und nahmen sich aus wie ein
dickpelziges, regungslos witterndes Rudel, alle in die gleiche Richtung
starrend. Manche Gesichter waren tätowiert, die Haare schwarz. Es wird schwer
sein, dachte John, sie auseinanderzuhalten. Jetzt machte er halt und hielt
Augustus am Arm fest. Er zählte leise bis zwanzig und sagte dann: »Fang mit der
Rede an!«
    Augustus wußte, was er zu sagen hatte. John hatte darauf geachtet,
daß er die Sätze auswendig konnte. Er hatte auch mit Hilfe von Junius geprüft,
ob sie das Richtige bedeuteten: Friedliche Absichten, Geschenke, Tausch von Nahrung
gegen »gute Dinge«, ob sie ein großes Schiff gesehen hätten gegen
Sonnenaufgang. Und immer wieder Friede.
    Als Augustus aufhörte, warfen die Eskimos die Arme in die Luft und
klatschten hoch über ihren Köpfen in die Hände wie ein enthusiastisches
Opernpublikum. Was, zum Teufel, bedeutete hierorts das Händeklatschen?
Vielleicht keineswegs Beifall! Laut und rhythmisch riefen alle zusammen:
    Â» TEYMA, TEYMA !«
    Hoffentlich hieß das nicht Rache. John dachte an TOD ODER RUHM und BROT ODER BLUT .
Er konnte Augustus nicht fragen, denn der war von klatschenden Eskimos umringt.
Nachlaufen wollte er ihm auch nicht. Allein von seiner Würde, das wußte er,
hing jetzt alles ab. So blieb er stehen, nahm das immer mehr anschwellende
Teyma heiter und stolz entgegen wie eine Huldigung und hoffte inständig, daß es
nichts weiter als Guten Tag hieß.
    Â»Teyma« hieß »Friede«!
    Die Geschenke waren übergeben: zwei Kessel und mehrere Messer. Jetzt
begann der Tauschhandel. Die Eskimos boten Pfeile und Bogen, Speere und
hölzerne Sonnenbrillen an und wollten alles haben, was sie an Geräten und
Metallgegenständen sahen. Bald fingen sie an, sich auch selbst zu nehmen, was
sie brauchten. Freundlich lächelnd drängten sie überall hin, stahlen Back die
Pistole und Hepburn den Mantel. Back wollte ihnen die Pistole entwinden, aber
sie riefen laut: »Teyma« und rückten sie nicht wieder heraus.
    John saß wie ein Berg und rührte sich nicht. Er wußte, daß er sich
vor den flinken Fingern selbst am allerwenigsten schützen konnte, daher hatte
er Hepburn zu sich befohlen. Ein Eskimo versuchte ihm gerade einen Uniformknopf
von der Jacke zu schneiden. John sah ihn nur aufmerksam an. Hepburn schlug ihm
auf die Finger und wies zu Hood hinüber, bei dem Knöpfe eingetauscht werden
konnten. Für eine Weile wirkte es.
    Die Lage war wirr und nur durch Abwarten zu meistern. John ahnte,
daß das Schicksal der Expedition besiegelt wäre, wenn er sich jetzt erhöbe,
Unruhe zeigte oder Befehle brüllte. Außerdem wußten die Eskimos sehr genau, was
Gewehre und Pistolen bedeuteten. Wenn einer der Weißen auch nur in die Nähe
seiner Waffe kam, hielten sie ihn sofort zu mehreren fest, riefen: »Teyma,
Teyma« im Chor und klopften ihm im Takt dazu sanft auf die linke Brustseite.
    Hood suchte sich einen Strick und band sich den Kasten mit den
astronomischen Instrumenten so fest unter den Schenkel, daß niemand diese
Geräte stehlen konnte, ohne ihn selbst mitzuschleifen. Dann zog er die Mappe
heraus und begann eine der Frauen zu zeichnen. Er verwandte viel Mühe auf die
Tätowierungen in ihrem Gesicht, auf die Stirnknochen, die Augen. Andere Eskimos
versammelten sich hinter

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