Die Entdeckung der Langsamkeit
Schiffe nach Australien, San Franzisko, Panama und den Sandwich-Inseln.
Aber eigentlich â was interessierten John die Passagierschiffe! Er muÃte
lachen. Er war guter Dinge.
Es war still hier auf dem Hügel. Von seiner moosbewachsenen Kuppe
blickten die Männer über die Mündung des Kupferminenflusses hin aufs Meer. In
der Ferne zeichneten sich vor einem zartrosigen Himmel zwei flache,
schneebedeckte Inseln ab â oder war das schon das Eis? Die Luft schien leer.
Von Insekten keine Spur. AuÃer dem Rascheln ihrer Kleider und dem Knacken ihrer
Knöchel hörten sie keinen Laut.
Vor Johns Augen lag unbekanntes Gebiet, ruhig und grenzenlos wie der
väterliche Garten vor Jahrzehnten. Und das Meer war unzerstörbar. Tausend
Flotten hinterlieÃen auf ihm keine Spur. Das Meer sah jeden Tag anders aus und
blieb sich darin bis in Ewigkeit gleich. Solange es das Meer gab, war die Welt
nicht elend.
Johns Träume wurden jäh unterbrochen, denn die Voyageurs traten vor
ihn hin und erklärten entschieden, sie wollten nicht in gebrechlichen Kanus das
Meer befahren.
Back sagte ihnen, es sei gar nicht gefährlich. Hood meinte, es sei
vielleicht schön. Richardson wuÃte mit Bestimmtheit, daà dort droben eine Hand
sei, die alle beschützen werde. Hepburn brummte: »Seid ihr nun Männer oder seid
ihr keine?« John hörte all das mit halbem Ohr. Weil er Respekt vor den
Voyageurs hatte, warteten sie nur auf das, was er sagte. Er blickte weit weg
und bereitete seine Sätze vor. Dann drehte er sich um und sah Solomon Bélanger
an.
»Es ist kein Spaziergang. Aber es liegen mehr Gefahren hinter uns
als vor uns.« Er sah wieder aufs Meer hinaus und sagte in die Stille hinein,
als spräche er zu sich selbst: »Anders läÃt sich nicht fortsetzen, was wir
angefangen haben. Es gehört zu unserer Reise.«
Solomon Bélanger fand, dann müsse es eben gemacht werden. Back
verzog das Gesicht. Die anderen Briten bewunderten John unverhohlen. Die
Abreise wurde vorbereitet.
Back schien irgend etwas nicht loswerden zu können, eine Spottlust,
eine Bosheit, eine Wut. Aber er hatte niemanden, der auf seine Meinung wartete,
keinen, der so war wie er. Deshalb sagte er schlieÃlich nur wie zur Entschuldigung
zu Hood:
»Ich mag solche Ansprachen nicht. Er führt sich auf wie ein
Heiliger, dem jeder helfen muÃ, wie eine Art Nelson!«
Vierzehntes Kapitel
Hunger und Sterben
Ein Feld voller Knochen und Schädel, wie Feldsteine ins
Moos gebettet, mit Spalten von den Schneiden indianischer Streitäxte, das war
die Stelle am Bloody Fall, wo fünfzig Jahre zuvor Samuel Hearne die Katastrophe
nicht hatte verhindern können.
John Franklin wuÃte, daà er die Eskimos brauchte. Er fürchtete, daÃ
sie das damalige Desaster bis heute nicht vergessen haben könnten. Wo die
Menschen sich nichts aufschrieben, war Vergangenheit nicht harmlos. Oft fielen
ihm jetzt die Erschlagenen auf dem Grund des Kopenhagener Hafens ein.
»Benehmen wie ein Gentleman.« »Angst ist zu ignorieren.« Wie wenig
diese Sätze halfen, wenn man Commander war.
Zwei oder drei Eingeborenen, die sich langsam näherten, würde man
Vertrauen einflöÃen können. Schlecht war nur, wenn ein ganzer Stamm auf einmal
oder wenn gar niemand kam.
Die Bucht war leer, nicht einmal Vögel waren zu sehen. In der Hand
hielt John eine Liste mit den Namen, die für Berge, Flüsse, Kaps und Buchten
vorgesehen waren: Flinders, Barrow, Banks, die Namen der britischen
Mitreisenden und von Berens, dem Gouverneur der Hudsonbaikompanie. Ach, Namen! Wenn
sie hier verhungerten oder getötet wurden, blieb keiner dieser Namen an den
Felsen hängen. Aber jetzt halfen sie ihm wenigstens gegen die Unruhe. Er hatte
die Schädelstätte mit seinen Leuten begangen wie einst das Schlachtfeld von
Winceby mit dem Apotheker. Er hatte begreiflich machen wollen, worum es bei der
Begegnung mit den Eskimos ging. Aber für Back waren die alten Knochen
offensichtlich nur ein Beweis dafür, daà man mit Eskimos fertigwerden konnte,
wenn sie frech wurden.
Plötzlich waren Hepburns Augen starr auf die See gerichtet: »Guter
Himmel, es geht los!« John sah an der Peripherie seines Blickfelds nur, daà die
Bucht irgendwie dunkler geworden war. Er drehte sich um.
Da kamen gut hundert Kajaks und mehrere offene, gröÃere Boote. Sie
näherten sich fast lautlos, es war wie ein
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