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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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»Sie
haben ihn durch die Stirn geschossen, Sir. Er hat nicht gelitten, er hat es
nicht einmal begriffen.« John antwortete: »Diese Reise war um eine Woche zu
lang.« Am nächsten Tag sahen sie das Fort am Seeufer liegen.
    Im Blockhaus fanden sie vier lebende Skelette, die sich
kaum mehr erheben konnten: Dr. Richardson, Adam, Peltier und Samandré. Keine
Vorräte, kein Bissen Nahrung! Sie hatten mit ihren Messern an einer vor einem
halben Jahr weggeworfenen Rentierdecke herumgekratzt und die Schuhe verzehrt,
die sie bis hierher getragen hatten. »Wo sind die anderen?« fragte John. Der
Doktor versuchte zu antworten. John ermahnte ihn, nicht mit einer solchen
Grabesstimme zu reden. Richardson erhob sich, indem er sich mit Spinnenfingern
am Mittelbalken emporkrallte, starrte John mit hervorquellenden Augen an und
röchelte: »Sie sollten sich erst einmal selbst hören, Mr. Franklin!«
    Richardson hatte nichts vorgefunden als eine Nachricht von Back:
»Keine Nahrung und keine Indianer hier. Gehen weiter nach Süden, um Menschen zu
finden. Beauparlant tot, Augustus vermißt. Back.« Wentzel war zwar dagewesen
und hatte die Karten mitgenommen, aber sein Versprechen hatte er nicht
gehalten: für Proviant hatte er nicht gesorgt.
    Hepburn schleppte sich hinaus und versuchte etwas zu schießen. Er
hatte Glück und kam mit zwei Rebhühnern zurück. Gierig verschlangen die sechs
Männer das rohe Fleisch – kaum mehr als ein Bissen für jeden. Das war der 29. Oktober.
    Die Reise war noch nicht zu Ende.
    Peltier und Samandré lagen im Sterben. Adam konnte nicht
mehr aufstehen, nicht einmal mehr kriechen. Sein Unterleib war geschwollen, er
litt große Schmerzen.
    Der Doktor saß an dem winzigen Feuer, das Hepburn angezündet hatte,
und las aus der Bibel vor. Seltsam fremd und verrückt war das: da saß einer und
las mit einer brüchigen Stimme, die man kaum mehr verstehen konnte,
verschrobene Sätze aus einem alten Buch des Orients vor, das man ebenfalls kaum
verstehen konnte, mitten in der Arktis. Dennoch war es für alle ein Trost. Er
hätte auch mit den Fingern schnippen und davon die Rettung erhoffen können –
wenn er selbst daran glaubte, war es ein Trost auch für andere.
    John teilte Richardson unter vier Augen mit, was geschehen war. Sie
sahen sich gegenseitig lange ins Gesicht mit ihren hervorgetretenen Augäpfeln,
gebeugt und hüstelnd, anzusehen wie elende alte Säufer in Londons Gin Lane.
    Â»Ich hätte es auch getan, Mr. Franklin«, raunte der Doktor
schließlich, »aber beten Sie jetzt, beten Sie!«
    Sie besprachen die Lage. Mehr und mehr begannen sie den Verstand zu
verlieren. Aber jeder von ihnen schätzte seine eigene Denkfähigkeit immer noch
höher ein als die des anderen, deshalb sprachen sie in einer beruhigenden,
unendlich geduldigen und simplen Weise aufeinander ein und wiederholten alles
immerfort, weil sie vergaßen, was sie bereits gesagt hatten.
    Alles kam nun auf Back an.
    In der Nacht zum 1. November starb Samandré, und als
Peltier das wahrnahm, verlor er jede Hoffnung und starb drei Stunden später.
Die anderen waren jetzt zu schwach, um die Leichen auch nur aus der Hütte zu
tragen.
    Hepburn und John, die sich noch kriechend fortbewegen konnten,
versuchten tripes de roche und Feuerholz zu finden,
fielen dabei immer wieder in Ohnmacht und kamen mit karger Ausbeute zurück.
Längst hatten sie begonnen, jedes entbehrliche Stück Holz zu verbrennen:
Innentüren, Regale, Bodenbretter, den Schrank.
    Jetzt lag Adam im Sterben. Seit Tagen hatte er nicht mehr
gesprochen, nicht einmal eine bequemere Lage gesucht.
    Â»Er wird kommen!« sagte John.
    Â»Wer?« flüsterte Richardson.
    Â»Back. George Back.
Midshipman George Back. Verstehen Sie mich nicht, Doktor?«
    Er brach ab, weil er merkte, daß Richardson schon seit einiger Zeit
selbst sprach, nein, zischelte. Jetzt wiederholte er es. »… ist gütig. Wird
alles zum besten wenden.«
    Â»Wer?« fragte John.
    Richardson wies mit einer Kopfbewegung zur Decke.
    Â»Der Allmächtige.«
    Â»Weiß ich nicht«, flüsterte John, »Sie wissen doch, ich …« Sie lagen
in die Reste ihrer Felldecken gehüllt, das Feuer ging aus, sie warteten auf den
Tod. Es stank.
    Am 7. November traf Akaitcho, der Häuptling der
Kupferminenindianer, mit zwanzig Kriegern am tief verschneiten Fort

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