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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Erläuterung. John erzählte ihr vom Kater Trim, der sich
solche Gelegenheiten nicht hatte entgehen lassen. »Das ist der, nach dem die Stadt
heißt«, rief Ella. »Heißen sollte«, verbesserte John. »Man hielt dann Lord
Melbourne für wichtiger.« Jane spähte nach den Gästen und bedeutete ihm, er
möge doch besser das Thema wechseln. Sophia lachte.
    Frühmorgens ging John mit seiner Tochter unter den Eukalyptusbäumen
im Garten des Government House spazieren. Alles schien dann so klar und
einfach. Diese Kolonie würde eines Tages ein Land werden, in dem Kinder
aufwachsen konnten, ohne daß man ständig die Hälfte allen Geschehens vor ihnen
verborgen halten mußte. Ohnehin erkundigte Ella sich längst nach Sträflingen
und Gefängnissen. »Wie wird man ein Bösewicht?« fragte sie einmal. Sie war
daran gewöhnt, daß Papa oft minutenlang nachdachte, bevor er etwas sagte. Das
war ihr lieber als jene Erläuterungen, die das bereits Bekannte nur in anderen
Worten wiederholten. »Ein Bösewicht«, sagte John, »kennt seine richtige
Geschwindigkeit nicht. Er ist bei den falschen Gelegenheiten zu langsam und bei
den anderen zu schnell wo es auch verkehrt ist.« Das wollte Ella genau erklärt
bekommen. John sagte: »Er tut zu langsam das, was andere von ihm wollen, zum
Beispiel gehorchen oder helfen. Aber er versucht viel zu schnell das zu
kriegen, was er von anderen will, zum Beispiel Geld oder …« »Langsam bist du
doch auch!« meinte Ella. »Ein Gouverneur darf das sein!« antwortete John, biß
sich aber auf die Lippen.
    John Franklins System wuchs, es nahm Umrisse an, die einer
Kolonie angemessen waren. Er glaubte, zumindest theoretisch, die richtige
Methode des Lebens, Entdeckens und Regierens gefunden zu haben.
    Â»An der Spitze müssen zwei Menschen stehen, nicht einer und nicht
drei. Zwei. Einer von ihnen muß die Geschäfte führen und mit der Ungeduld der
Fragen, Bitten und Drohungen der Regierten Schritt halten. Er muß den Eindruck
von Tatkraft machen und doch nur das Billige, Unwichtige und Eilige erledigen.
Der andere hat Ruhe und Abstand, er kann an den entscheidenden Stellen nein sagen.
Denn er kümmert sich nicht um das Eilige, sondern schaut einzelnes lange an, er
erkennt Dauer und Geschwindigkeit allen Geschehens und setzt sich keine
Fristen, sondern macht es sich schwer. Er hört auf die innere Stimme und kann
auch den besten Freunden nein sagen, vor allem seinem Ersten Offizier. Sein
eigener Rhythmus, sein gut behüteter langer Atem sind die Zuflucht vor allen
scheinbaren Dringlichkeiten, vor angeblichen Notwendigkeiten ohne Ausweg, vor
kurzlebigen Lösungen. Wenn er nein gesagt hat, ist er zur Begründung
verpflichtet. Aber auch damit darf es keine zu große Eile haben.« So hatte Franklin
es formuliert und aufgeschrieben.
    Â»Das ist die Monarchie!« rief Maconochie aus. »König und Kanzler –
Sie haben die Monarchie erfunden! So weit wären wir also schon.«
    Â»Nein«, sagte John, »es ist das Regieren überhaupt! Die Monarchie
läßt sich nur besonders leicht darin erkennen.«
    Â»Und wo bleibt das Volk?« fragte Maconochie.
    Â»Es kann an die Stelle des Königs treten«, antwortete John. »Ohne
Langsamkeit kann man nichts machen, nicht einmal Revolution.«
    Der Sekretär war nicht zufrieden. »Das heißt doch nur: warten! Wem
wollen Sie das ernstlich empfehlen? Mit fünfundsechzig mache ich keine
Revolution mehr!«
    Â»Ich, ich«, wiederholte John unwillkürlich.
    Die Londoner Regierung schickte ihre Sträflinge: Arbeiter,
die in Devonshire Maschinen zerstört hatten. Rebellen für die Unabhängigkeit
Kanadas. Anhänger des allgemeinen Wahlrechts, die sich von der Polizei nicht
hatten einschüchtern lassen. Für Maconochie waren sie Helden, für Franklin
»politische Gentlemen«. Montagu sprach von Frevlern gegen Gott und Krone. Er
empfahl für sie das Schwerverbrechergefängnis in Port Arthur, denn so war es
seit jeher üblich. Auf keinen Fall dürften die Politischen den Siedlern als
Arbeitskräfte zugeteilt werden: »Der Funke springt leicht über!« John entschied
anders, obwohl er wußte, daß Entscheidungen gegen Montagus Votum viel Nerven
und Schreibtischarbeit kosteten. Montagu verstand es wie kein anderer, bereits
gefaßte Entschlüsse zu hintertreiben.
    Und Maconochie

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