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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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sich an das Gesicht des Aufsehers und machte sich einen anderen
Vers. Befehl: Strafversetzung wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Mehr
konnte er ohne Zeugen und Beweise vorerst nicht unternehmen. Was für einen Arzt
gab es in Port Arthur? Was für Geistliche? Keine verständnisvollen
Betrachtungen. Vorwärts. John hörte einen Befehl, so deutlich wie damals auf
der Investigator. Er wollte Ekel und Zorn nicht zu
sehr wirken lassen, sondern handeln. Hier war es komplizierter, es genügte
nicht, eine Flagge zu heißen. Er konnte nicht von einem Tag auf den anderen
alle Aufseher entlassen oder einsperren. Er konnte vor allem seine eigenen
Minister nicht ohne gut abgesicherte Gründe entlassen.
    Dann die Flinders-Insel. Er hatte sich darauf gefreut,
wahrscheinlich weil sie Matthews guten Namen trug. Und angeblich wurde für die
verbliebenen Ureinwohner von Van Diemen’s Land bestens gesorgt …
    Siebenundsechzig ausgemergelte, elende Gestalten mit verfilztem Haar
und stumpfem Gesichtsausdruck, mit schmutziger Haut und gebeugten Rücken, die
waren übriggeblieben! Sie hockten teilnahmslos auf einem öden, garstigen Stück
Land und warteten auf den Tod. Kinder wurden nicht mehr geboren, und das war
folgerichtig: was sollten Kinder in einer Welt, in der es für sie nichts gab
als die Flinders-Insel? Die traurigen Bilder waren durch Johns Augen gedrungen,
er hatte energisch versucht, sie im Kopf aufzuhalten, aber sie hatten den Weg
bis in seine Knochen gefunden. Da saßen sie jetzt und fragten: Was wirst du
tun, John Franklin? Er antwortete: Mich nicht lähmen lassen!
    Wie anders sahen sie jetzt aus, die hübschen weißen Häuser, das
purpurn-dunkle Gebirge, der blaue Fluß, die breitärmeligen Damen und die
Gentlemen in zugeknöpften Mänteln, mit ihren strengen Gesichtern unter
ehrerbietig gelüfteten Filzhüten. Hinter den hochtrabenden Worten erschienen
andere Wahrheiten.
    Die Polizisten waren keine Hüter der Ordnung mehr, die prachtvollen
Villen am Battery Point ließen keine Bewunderung für Fortschritt und Aufbau
mehr aufkommen, und die Straßen, die St.-David-Kathedrale, die Häuser – sie
waren von Sträflingen erbaut!
    Jetzt wußte er nicht nur, was Sträflinge wollten, sondern auch, was
sie erlebten. Die neuerbaute Werft mit dem süßen Holzgeruch halbfertiger
Schiffsrümpfe: befremdlich, wenn man wußte, daß die Schiffbauer in Ketten
gingen! Auch der Fischgeruch der trocknenden Netze am Salamanca Place hatte
nichts Tröstliches mehr. Wie oft hing in diesen Netzen einer der Toten von der
Steilküste!
    Sir John Franklin verschanzte sich erneut hinter seinem
Schreibtisch, das Büro wurde sein Hauptquartier. Aber nicht nur überwachen, strafen,
Krieg führen wollte er, sondern auch Menschen gewinnen, die dasselbe in den
Knochen hatten wie er. Und sie sollten mehr werden.
    Für die Ureinwohner mußte ein besseres Wohngebiet gefunden werden
als die öde Insel. Freundlich, aber vorsichtig sprach er mit Montagu darüber.
Der war nicht einverstanden, fand einige Gegengründe. Aber schon am nächsten
Tag waren Johns Pläne für die Einrichtung eines großen Reservats nach London
unterwegs.
    Jane beherrschte ihre Rolle als Gouverneursfrau vollkommen.
Wenn John öffentlich aufzutreten hatte, war sie ihm eine wachsame
Bundesgenossin. Sie kümmerte sich um das Frauengefängnis und korrespondierte
mit einer Elizabeth Fry in London über Fragen der Gefängnisdisziplin. Sie lud
Beamten- und Siedlerfrauen und deren Töchter ein und ließ sie Streichquartette
und wissenschaftliche Vorträge hören. Sie führte den ganzen vielfältigen
Haushalt und kochte, mit mäßigem Erfolg, aber fröhlich, für zwanzig Personen,
wenn der Koch krank oder geflüchtet war. Sie sagte zu allem ohne Scheu ihre
Meinung und dachte nicht daran, eine gepflegt-stupide First Lady nach dem
Vorbild der Mrs. Arthur abzugeben. Dazu war sie zu weit gereist, hatte zu viele
Bücher gelesen, zu verschiedenartige Menschen in drei Erdteilen beobachtet. Sie
versteckte ihren Geist so wenig wie ihre Schönheit. John war von Janes Urteil
unabhängig, aber er hörte es mit Respekt. Er liebte sie ohne Leidenschaft, aber
er vertraute ihr mehr als vormals Eleanor. Er brauchte sie nicht ständig um
sich, aber sie konnte ihn auch nicht stören. Glücklicherweise ging es ihr
ähnlich. Wenn das keine

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