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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Gegner. Die Eifersüchteleien einzelner Familien
waren nur Zeitvertreib. Auch die verschiedenen Zeitungen, die in Hobart und
Launceston erschienen und einander mit gesträubten Federn bekämpften, litten
unter ihrer politischen Wirkungslosigkeit. Um so mehr verlegten sie sich auf
einen Journalismus der Nadelstiche, besonders gegen die Kolonialregierung:
Persönlichkeitsdeutung, persönliche Kränkung, Verdächtigung.
    John sah sich die Häuser der reichen Landbesitzer an und ihre teuer
aufgeputzten Töchter. Er hörte die moralisierenden Reden, blickte in die
gepflegten Gärten. Hinter alledem schien sich anderes zu verbergen. John meinte
eine Doppelbödigkeit der Rede zu spüren, einen hinter der Vernunft versteckten
Appetit auf Konflikt, vor allem bei den großen Viehzüchtern am Rande der
Wildnis. Das bedrückte ihn, schon weil er boshafte Anspielungen oft nicht
gleich verstand und um Wiederholung bitten mußte. Er sehnte sich nach mehr
Geschäftsleuten, nach Ladenbesitzern mit beweglichem, rechnendem Geist,
freundlichem Wesen und Kaufmannsgeduld. Aber die waren in Van Diemen’s Land in
der Minderzahl. Und von den gestiefelten Kavalieren, die abwechselnd von ewigen
Prinzipien oder vom kurzen Prozeß redeten, gab es weitaus zu viele.
    Der erste Ärger mit ihnen war bald da: daß John den verbliebenen
Ureinwohnern etwas von ihrem Land zurückgeben wollte, erschien jenen
Gestiefelten wie ein Angriff auf ihr Leben, Hab und Gut. Sie hatten Geld und
Verbindungen, und siehe: bald wies eine Depesche der Londoner Regierung Sir
John an, die Tasmanier dort zu lassen, wo sie waren. Maconochie vermutete, daß
Montagu mit dahintersteckte. John sagte: »Unsinn! Wir sind zwar Gegner, aber er
ist ein Ehrenmann.«
    Schwerer wog die Meinungsverschiedenheit über den Strafvollzug. Die
Zeitungen der Kavaliere, »The True Colonist« und »Murray’s Review«, zeterten
über die »neue Mode, den Gefangenen Rechte zuzubilligen und angebliche
Mißbräuche der Prügelstrafe zu ahnden«. Und ein Landbesitzer, mit dem John
persönlich redete, sagte es unter vier Augen noch deutlicher: »Wenn Port Arthur
nicht mehr ein Ort des Schreckens ist, wie sollen wir dann die
Arbeitssträflinge einschüchtern, die uns privat zugeteilt sind? Wenn das
Gefängnis ein Paradies der fairen Behandlung wird, dann werden uns die eigenen
Arbeiter die Köpfe einschlagen, nur um dorthin zu kommen!«
    Seltsamerweise galt ausgerechnet Maconochie den Zeitungen als ein
Befürworter strenger Gefängnisdisziplin, vielleicht ein Mißverständnis. Und
ebenso seltsam war es, daß der Sekretär sich dies gefallen ließ und nichts unternahm,
um das Bild zu korrigieren. Er ließ sich offenbar gern loben. Er empfand es als
nützlich für die gute Sache, ob es nun im Irrtum geschah oder nicht.
    Das System war gut, aber es fehlte der Geschäftsführer,
auf den John sich verlassen konnte. Daher sah die Praxis anders aus. Er ahnte
Schlimmes. Wenn er alles selbst überwachen mußte, dann gebot das Pflichtgefühl,
keine Zeit zu verlieren und jede Minute für den Nutzen der Kolonie anzuwenden.
Je mehr er das aber tat, desto mehr hinkte er hinterdrein, bis ihm die
Gegenwart ganz abhanden kam. Das Vielerlei machte ihn nervös. Er ertappte sich
bei kurzatmigen Entscheidungen, die er nur traf, um sich eine Last vorläufig
vom Hals zu schaffen.
    Eines späten Abends überließ er Jane ihrem Abenteuerroman und ging
aus dem Haus. Erst wollte er Hepburn besuchen, dem er die Stelle eines
Erziehers verschafft hatte. Aber er entschied sich dafür, nicht Trost zu
suchen, sondern nachzudenken.
    Aus einer Flasche Rum trinkend, ging er barfuß im Gouverneursgarten
auf und ab, um sich für einige brauchbare und zuversichtliche Gedanken bereit
zu halten. Wenn natürliche Langsamkeit nicht ausreichte, um Ruhe und
Konzentration zu schützen, dann wollte er eben nachhelfen. Er entschloß sich,
nur noch einen Teil aller Erledigungen schnell, den anderen aber absichtlich
besonders langsam hinter sich zu bringen: mehr Pausen in die Sätze, mehr
Schwerhörigkeit, wenn andere ihm berichteten. Und bei Forderungen: nur wer
lange genug darauf verzichtete, ihn zu drängen, sollte einen zustimmenden
Bescheid erhalten.
    Ein Reservat mußte er schaffen für sich selbst, in welchem er seine
Zeit hüten konnte.
    Der Rum ging in die Beine.
    Den Anfang wollte

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