Die Entdeckung der Langsamkeit
Wenn er sie
wieder öffnete, flatterte das alte noch unerledigt herum und lieà sich nicht
einfangen, dafür stand das neue da und glotzte drohend.
Er muÃte schnellstens für langsamere Tagesordnungen sorgen, am
besten dadurch, daà er alle Sitzungen öffentlich abhielt: dann waren die
Routiniers nicht mehr unter sich und muÃten erklären, was sie meinten. Zu viele
verschiedene Punkte hintereinander: das zerstörte die Konzentration, vor allem
bei einem Mann, der ein Chaos von Einzelbildern im Kopf trug.
Er allein war Gouverneur. Er allein hatte zu entscheiden, wieviel
Zeit für Hoffnung oder MiÃbilligung in jedem einzelnen Fall eingeräumt werden
muÃte!
Von diesem Tag an waren die Sitzungen des Legislativrats von Van
Diemenâs Land öffentlich.
Vierter Tag im Amt. Noch zwei Tage bis zur ersten ausführlichen
Besichtigung der Strafanstalten und Ansiedlungen. Alles hing davon ab, was er
dabei zu sehen bekam. Er wuÃte, daà sich hinter den Akten und Berichten
Schlimmeres verbarg. Darum las er sie mit doppeltem Eifer, denn als erstes
wollte er erreichen, daà Akten und wirkliche Ereignisse übereinstimmten. Bei
der Besichtigung würde er nicht ohne den starren Blick auskommen: er war
entschlossen, sich von den Bildern nicht ergreifen oder niederdrücken zu
lassen. Er war der Gouverneur, er muÃte Ãberblick gewinnen und sehen, was er
tun konnte. Tun! Nicht weinen, nicht hassen, nicht zittern.
Maconochie glaubte schon jetzt zu wissen, was in der Kolonie anders
werden müsse. Er gab John Ratschläge. John erzählte ihm von Matthew Flindersâ
Rettungsfahrt nach der Strandung der Schiffe: »In der Navigation muà man die
Ausgangsposition so genau feststellen wie das Ziel.« Aber der Sekretär kannte
nur den Landkrieg.
Er hatte die Inspektionsreise hinter sich, das Gefängnis
von Port Arthur, die letzten Ureinwohner auf der Flinders-Insel. Die
Kohlenminen, in denen die Schwerverbrecher arbeiteten. Er war gemeinsam mit
Lady Jane â und gegen den Rat der leitenden Beamten â schweiÃüberströmt durch
die dunklen Gänge gekrochen und überall so lange geblieben, bis er jeden
Vorgang verstanden hatte. Er hatte sich zusammengenommen, sein Entsetzen
verborgen, Fragen zur Funktionsweise gestellt, ab und zu Jane angesehen, rasch
wieder weggeguckt.
Lebenserwartung in den Kohlenminen: durchschnittlich noch vier bis
fünf Jahre. Fünfzehn- bis siebzehnstündiges Schuften unter Tage. Peitschenhiebe
für alles und jedes. Kohlenstaub in den Wunden. In Port Arthur galt seine erste
Frage den waagrecht eingegrabenen dunklen Narbenstreifen auf den Rücken einer
Kolonne von Gefangenen. Antwort: »Oh, das sind Barclays Tiger!« Leutnant
Barclay selbst hatte fröhlich verkündet, daà er die Tigerstriemen durch
regelmäÃiges Auspeitschen frisch halten lasse.
Was für eine Sorte Gouverneur hatte der erwartet? Sofortige
Dienstenthebung, Anweisung an den Staatsanwalt, er möge gegen Barclay und einen
gewissen Slade Anklage erheben. George Augustus Slade vom Gefängnis Point Puer
hatte sich damit gebrüstet, daà fünfundzwanzig Peitschenhiebe von seiner Hand
mehr Wirkung erzielten als hundert von der eines anderen. In Zukunft nicht
mehr!
Vorsicht übrigens: der Staatsanwalt war ein Mann der Arthur-Clique.
Ãberprüfen, was der unternahm! Notiz.
Weiter! Point Puer, das Knabengefängnis über der Steilküste. Jeden
Monat stürzten sich mehrere jugendliche Gefangene über die Klippe hinab, um ein
Ende zu machen, zuletzt zwei Neunjährige. Er hatte sie zusammen mit Lady Jane
und seiner Nichte Sophia noch lebend gesehen. Magere Körper, Narben. Seltsam
groÃe Augen, vielleicht wegen der Schmalheit der Gesichter. Solche Gesichter
brauchten nicht mehr zu weinen, um Elend anzuzeigen. Sophia war von ihrem
Schicksal gerührt gewesen, hatte die beiden einfach umarmt und auf die Stirn
geküÃt, zum sichtbaren MiÃbehagen des Aufsehers. Die Jungen hatten ihr zugeflüstert,
daà sie sehr geschlagen würden, dann waren sie verstummt. Als John sich einen
Tag später nach den beiden erkundigte, erfuhr er von ihrem Selbstmord. Der
Aufseher lieferte eine gut erfundene Geschichte: Die sündigen Knaben hätten
Sophia wegen ihrer langen blonden Haare für einen Engel gehalten und sich in
der vermessenen Hoffnung getötet, sie könnten ihr im Himmel wiederbegegnen.
John erinnerte
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