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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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deutlich nichts an, er wartete auf Wichtigeres, sah es
vielleicht schon kommen. Ein gutes Glas war das, aber der Mann war zu weit
entfernt, das Gesicht kaum erkennbar. Wahrscheinlich eine gebogene Nase und
eine kräftige Stirn. Ein alter Mann. Er blickte – nicht »wie ein Adler«,
sondern »wie Adler«. John stellte fest, daß das Glas an seinem Auge zitterte.
    Â»Mr. Forster!«
    Â»Exzellenz?« Der Polizeichef beugte sich herüber.
    Â»Nehmen Sie mein Glas. Sehen Sie den Alten auf der Landspitze?«
    Mr. Forster schien noch nie ein Fernglas in der Hand gehabt zu
haben. Endlos stellte er Entfernung und Schärfe ein und suchte den Horizont ab.
Dann hatte er ihn.
    Â»Das ist ein vor kurzem entlassener Sträfling.«
    Â»Sein Name?«
    Â»Ist wahrscheinlich falsch. Verzeihen Sie, Exzellenz, aber er nannte
sich John Franklin.«
    Â»Wieso ›nannte‹?« fragte John, aber er wartete die Antwort nicht ab.
Undeutlich hörte er fragende und grüßende Stimmen, merkte plötzlich, daß er
längst aufgestanden war und den Weg zur Landspitze ging, vorbei am Bierzelt, am
Käsestand. Zehn Schritte vor dem alten Mann blieb er stehen.
    Â»Sherard Lound?«
    Der Mann reagierte nicht, sah weit in die Ferne und aß. Er brach
sich Brotstückchen von einem Wecken ab, den er in der Linken hielt, und steckte
sie – seltsam, wohin nur? John sah ihn noch immer nur im Profil, von der linken
Gesichtsseite her. Es war, als stecke der Mann sich die Brotstücke ins rechte
Ohr. Hinter sich hörte John die Stimme von Mr. Forster: »Erschrecken Sie nicht,
er hat nämlich –«
    John erinnerte sich jetzt an den Namen und rief:
    Â»John Franklin?»
    Der Mann wandte nur kurz den Kopf, blickte dann sofort wieder aufs
Meer hinaus. John ging zu ihm hin, hinter seinem Rücken vorbei. Er stand jetzt
auf des Mannes rechter Seite, nahm den Hut ab. Und hinter dem herabsinkenden
Hut tauchte Sherards Gesicht auf, Zoll für Zoll: wirre weiße Haare, die Stirn
fahlbraun, sehr gefurcht, dann wurde die Haut unterhalb der Schläfe eigenartig
weiß, eine Narbe, und jetzt blieb das Bild im Auge stehen, es überlagerte alles
andere. Das gibt es eben, dachte John immer wieder, das gibt es. Sherards
Gesicht erinnerte an den Angsttraum, bei dem die symmetrische Figur plötzlich
in Stacheln und Fetzen auseinanderriß. Denn es war kein Gesicht mehr.
    Das Fleisch der rechten Wange fehlte, vielleicht ein Säbelhieb,
vielleicht verbrannt. Die Wange fehlte, die Zähne, lückenhaft, lagen offen bis
hinten.
    Â»Vermutlich war er während der napoleonischen Kriege Seemann«,
raunte Mr. Forster. »Jetzt ist er – verzeihen Sie – imbezil. Er spricht mit
niemandem. Fünfzehn Jahre war er in Port Arthur.«
    Â»Weshalb?«
    John setzte sich neben Sherard, legte seinen Hut hin und blickte
ebenfalls aufs Meer hinaus.
    Â»Piraterie«, antwortete Mr. Forster. »Als unsere Fregatten ihn
erwischten, war er im Besitz einer englischen Brigg, auf Kurs in den
Südatlantik.«
    Â»Lassen Sie mich allein«, sagte John. »Schicken Sie hier alle fort,
ich komme nach.«
    Sie saßen und schwiegen. Sherard fuhr fort, Brotstückchen
abzubrechen und von der Seite her in sein Gesicht zu stecken. Tief steckte er
die Bissen hinein, kaute sie und behielt die Hand oben, damit sie nicht wieder
herausfielen. Er schien seinen Frieden zu haben. Es mußte etwas geben, worauf
er wartete, aber ganz ohne Ungeduld. Sein Auge blieb auf den Horizont geheftet,
aber nicht so, als ob er dort im nächsten Augenblick das Entscheidende
erwartete.
    John dachte an die nie gefundene Insel Saxemberg.
    Sherard hatte damals gesagt: »Wenn niemand sie findet, gehört sie
mir.«
    Â»Wo wolltest du hin, Sherard? Nach Saxemberg?«
    Keine Reaktion. John sah wieder die zerstörte Gesichtsseite an und
überlegte, was daran eigentlich so schrecklich war. Jeder wollte, daß ein
Gesicht ihn hübsch und freundlich ansah. Jeder wünschte sich darin angenehm
gespiegelt zu finden und war entsetzt, wenn es ihm höhnisch zugrinste oder
drohte, wenn es zu knirschen und zu fluchen schien mit den Zähnen des
Totenschädels. Allein daran lag es! Wenn man das wußte, war Sherards Gesicht zu
ertragen.
    Dennoch wurde John seiner Gefühle nicht Herr. Sie hatten mit dem
Gesicht nur äußerlich zu tun. Er fühlte sich ohne Halt und wußte nicht, war er
traurig oder

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