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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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gesagt. Unsicher sah er ihr in die Augen.
    Â»Wie bitte?« Auf dem rechten Ohr verstand John immer schlechter.
Schwerhörigkeit, die Erbschaft von Trafalgar, die er so oft vorgetäuscht hatte,
um Zeit für eine Antwort zu gewinnen, sie war jetzt Wirklichkeit. Es traf sich
unglücklich, daß ein Herr, des Degens halber, stets links von der Dame gehen
mußte. Er konnte nicht einmal näher an Sophia heranrücken, denn jetzt waren
Reifröcke in Mode: die Damen waren durch glockenförmige Drahtgestelle noch
ausladender geworden.
    Sophia wiederholte ihren Satz. »Bist du traurig?«
    Â»Traurig nicht, aber schwerhörig«, antwortete er, »und etwas blinder
als früher, glaube ich. Ich sehe mehr auf einmal, auch schneller, aber das einzelne
schlechter. Ich vergesse auch viel.« Ihm wurde bewußt, daß er sich bei Jane
nicht so deutlich über seinen eigenen Zustand beklagt hätte.
    Jane glaubte an das Gute, vertraute jedem gern, focht fröhlich. Wenn
sie aber auf dauerhafte Kleinlichkeit und Verletztheit traf, wurde sie kühl und
bitter. Mit verachtungsvoll gehobener Braue zog sie sich zurück und suchte das
Leben anderswo. Jetzt war sie in Neuseeland, offiziell der Nerven wegen. In
Wahrheit hatte sie von der tasmanischen Engherzigkeit für eine Weile genug.
Hätte er sie ganz fernhalten sollen von den Ärgernissen des Regierens? Oder sie
noch mehr mitarbeiten lassen?
    Sie hörten, wie die Regimentskapelle ihre Instrumente stimmte.
Sophia sprach ihn abermals an. John blieb stehen und neigte ihr das gesunde Ohr
zu. »Für irgend etwas möchte ich kämpfen«, sagte sie, »ich weiß aber noch nicht
wofür.« John betrachtete ihre niedliche, zornige Nase. Sophia war eine stille
junge Dame und neigte eher zur Tiefsinnigkeit als zum wilden Aufflammen. Eben
darum war es ein wenig komisch und rührend, wenn sich ihre Nasenflügel so
blähten. John wandte den Blick und lächelte ein Kind an. Das Kind strahlte
zurück. Sie gingen weiter. Ich werde schon wieder das Lächeln nicht los, dachte
er. Imbezil, schwachsinnig.
    Â»Er ist ein unbeirrbarer Zögerer und ein wohlmeinender Koloß. Leider
hat er die verhängnisvolle Neigung, ehrliche Reden zu halten. Aber er ist
wenigstens kein windiger Charakter.« Lyndon S. Neat hatte das geschrieben,
einer der Persönlichkeitsdeuter in der Redaktion des »True Colonist«. Einige
Zeilen weiter: »Sir John bewegt sich in einer Gesellschaft wie ein Seelöwe an
Land.« Neat war wenigstens keine Kreatur der Viehzüchter, das war schon viel.
Aber konnte so einer nichts Besseres leisten, als einen bedrängten Gouverneur
abwechselnd zu bewundern und lächerlich zu machen? Konnte er nicht auf der
richtigen Seite mitkämpfen, ohne über alles nur zu schreiben? Gut, er wollte es
wahrscheinlich nicht anders.
    Â»Wofür du kämpfen wirst«, sagte John zu seiner Nichte, »das trägst du
schon längst mit dir herum.«
    Ob Sophia solche Sätze verstand? Die Erfahrung war, daß kaum ein
Mensch verstand, was man ihm sagte. Dabei wollte jeder verstehen: alle waren
ärgerlich, wenn man ihnen diesen Erfolg vorenthielt. Sogar Lady Jane.
    Aber Sophia wollte von ihm lernen. Sie war nach Dr. Orme der zweite
Mensch in Johns Leben, der ernstlich von ihm lernen wollte. Neuerdings hatte
sie sich die Langsamkeit in den Kopf gesetzt. Sie bewegte sich auch langsam,
und bei ihr sah das sogar schön aus.
    Es war soweit. John trat ans Geländer und überblickte die wartende
Menge: »Im Namen Ihrer Majestät der Königin« – Pause für die Königin – »erkläre
ich die Regatta zum 199. Jahrestag der Entdeckung Tasmaniens für eröffnet!«
    Hurrarufe, Böllerschüsse, die Regimentskapelle schmetterte los. John
setzte sich wieder auf die Tribüne neben Sophia, hob das Fernglas und wartete
auf den Start der vierrudrigen Gigs. Das Glas war ausgezeichnet. John
betrachtete die Bierzelte, die Käsestände, Schau- und Schießbuden, Kinder,
Blumen. Bei der kleinsten Bewegung des Glases jagte der Blick über Hunderte von
Gesichtern hin, die sich auf gereckten Hälsen der Startlinie zuwandten. Den
ganzen Kai entlang standen Menschen, erst an der Landspitze wurde die Menge
lichter. Dort hinten saß einer etwas erhöht auf der Kaimauer. Er war der
einzige, der nicht zur Startlinie schaute, sondern aufs Meer hinaus. Das
Treiben ging ihn

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