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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Stadtsiedler nannten sich mit Stolz Tasmanier und haßten den
alten Namen. John kümmerte sich nicht um den Widerstand in den beiden Räten und
gründete ein tasmanisches Museum für Naturkunde, baute aus knapper Kasse das
Parlamentshaus fertig und unterstützte das Theater. Am Fluß Huon kaufte er
Land, verpachtete es zu liberalen Bedingungen und für wenig Geld an ehemalige
Sträflinge. Wochenlang sprach er allabendlich mit Gelehrten, Kirchenleuten und
Siedlern über Erziehungsfragen. Er wollte eine Schule gründen.
    Als Jane aus Neuseeland zurückkam, zog er sie demonstrativ bei allen
Regierungsangelegenheiten zu Rate. Obwohl sie in den Kammern kein
Mitspracherecht hatte, war sie bei jeder Sitzung dabei. Ihre inoffizielle
Bedeutung wurde zur Selbstverständlichkeit. Die gehässigen Stimmen und Gerüchte
ebbten ab. Man begann einzusehen, daß es nicht Schwäche, sondern Souveränität
war, wenn der Gouverneur sich die Ratgeber wählte, die er für geeignet hielt.
    Sinkende Korn- und Wollpreise ließen in der Kolonie das Geld knapper
werden, die Zeiten waren schlimm. Zu allem Überfluß schickte London jetzt mehr
Sträflinge als je zuvor und schaffte gleichzeitig das Assignment ganz ab. Es
mußten neue Gefängnisbauten errichtet und mehr Mittel für den Unterhalt der
Sträflinge aufgebracht werden. Franklin machte von seinem Gnadenrecht bei
minderen Straftaten so oft wie möglich Gebrauch und überwachte das
Aufsichtspersonal mit Mißtrauen und Konsequenz. Nur noch Großgrundbesitzer,
Reste der Arthur-Fraktion und Gefängisbeamte waren gegen ihn. »Das wird aber
genügen, um mich zu stürzen«, sagte er gleichmütig zu Jane.
    Â»Vorher reisen wir noch quer durch den unbekannten Teil der Insel«,
verlangte sie.
    Â»Und beraten dabei über die neue Schule.«
    Sherard brachte Glück oder, was wahrscheinlicher war,
hielt das Unglück und diejenigen, die es anrichten konnten, fern. Er sagte
nichts, verstand vielleicht auch nichts, aber jeder, der nicht das
Gouverneurshaus ganz mied, spürte eine Wirkung: Schock, Trauer, Nachdenklichkeit,
heitere Ruhe, Tatenfreude. John erwog, Sherard an der Ratssitzung teilnehmen zu
lassen, verwarf den Gedanken aber als zu verrückt. Auch aus Respekt vor
Sherards Liebe zum Meer: für den wäre eine Sitzung verlorene Zeit gewesen.
    Sterben schien er, trotz der deutlichen Worte des Arztes, noch nicht
zu wollen. Er hatte sichtlich Freude an jedem Schiff, das in der Mündung des
Derwent vor Anker ging. Das waren nicht nur Gefangenenschiffe. Die alte Fairlie brachte etliche Wissenschaftler, darunter den
polnischen Geologen Strzelecki und Keglewicz, den nimmersatten,
präzisionswütigen Landvermesser mit der leidenden Seele. Einige Wochen später
liefen die Schiffe Erebus und Terror ein, von Johns Freund James Ross befehligt, der die Antarktis erforschen
sollte. Für ihn richtete John auf eigene Kosten eine astronomische
Beobachtungsstation ein.
    Es schien, als zöge Sherards Blick von jenseits der Kimm die
gutwilligen Leute herbei, während er die anderen außer Sichtweite hielt.
    Â»Die neue Schule soll Dauerhaftigkeit lehren, ohne zu
langweilen«, grübelte die Lady, »das ist just das, was Schulen nicht können.«
    Es regnete fürchterlich. Kaum ließ sich ein Feuer anzünden. Aber
Gavigan, einer aus der Sträflingsmannschaft, versuchte sein Bestes. Und alle
Reisenden waren glücklich wie die Kinder. »Der Gouverneur tut wieder einmal,
was ihm einfällt«, hatte der Chronist des »Chronicle« geschrieben. »Statt seine
vermutlich baldige Abreise vorzubereiten, geht er mit seiner Frau und einer
Bande von Sträflingen auf Abenteuerfahrt in den Busch!« Jetzt begann das Feuer
immerhin zu qualmen. »Die Schüler müssen entdecken lernen. Vor allem ihre
eigene Art des Sehens und ihre Geschwindigkeit, jeder für sich«, sagte John.
Jane schwieg, weil sie wußte, daß John nicht zu Ende gesprochen hatte, wenn
sein Auge immer noch auf einen bestimmten Punkt gerichtet war.
    Â»Schlechte Schulen«, fuhr John fort, »hindern jeden daran, mehr zu
sehen als der Lehrer –«
    Â»Man kann andererseits die Lehrer nicht zwingen, mehr zu sehen!«
    Â»Respekt sollen sie haben«, entgegnete John, »keinen zur Eile
treiben. Und beobachten müssen sie können«.
    Â»Willst du das verordnen?«
    Â»Vorführen. Respekt

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