Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
Vom Netzwerk:
allen Übeln das
schlimmste. Diese sieht er nun in dem vom Gouverneur befürworteten
Zuteilungssystem, dem Assignment. Hier erkennt er Sklaverei, während er alle
Grausamkeiten gelangweilter Aufseher in den Staatsgefängnissen als strafende
Gerechtigkeit bezeichnet. Obwohl nur Privatsekretär, glaubt er seine Stellung
der guten Sache nutzbar machen zu können: als ein edel gesinntes Juristenkomitee
aus England Näheres über den Strafvollzug von Van Diemen’s Land wissen will,
verfaßt er einen langen, scharf formulierten Bericht, in dem er alle Mißstände
im Lande, sogar Trunksucht und Geschlechtskrankheiten, allein dem Assignment
zuschreibt und zur Unterstützung dieser These einige Ausnahmefälle zur Regel
erklärt. Entschlossen steckt er sein Manuskript in eine Sendung des
Gouverneurs, so daß es unter dessen Siegel wie ein offizielles Dokument bei der
Regierung eintrifft. Einige Monate später erfährt der Gouverneur aus der
Londoner »Times«, daß sein Sekretär, angeblich in Übereinstimmung mit ihm, die
Siedler als »zur menschlichen Behandlung von Sträflingen unfähig« bezeichnet
hat. Die Siedler selbst sind entsetzt, sie fühlen sich vom Gouverneur verraten.
Dieser entläßt seinen Sekretär, allerdings ohne ihn öffentlich bloßzustellen.
Auf Bitten seiner Frau läßt er ihn sogar noch für begrenzte Zeit in seinem Haus
wohnen. Darin sehen die Großgrundbesitzer und der Koloniesekretär ein Zeichen
dafür, daß der Gouverneur seinen Privatsekretär nur geopfert hat, um sich
selbst reinzuwaschen. In Wirklichkeit stecke er mit ihm unter einer Decke. Der
»Geopferte« selbst tut nichts, um dem entgegenzutreten, vielmehr macht er Bemerkungen
wie: »Dazu könnte ich noch viel mehr sagen!« Er versteht seine Entlassung als
einen Akt gegen Fortschritt und Menschlichkeit und hält sich mehr denn je für
einen Heiligen. »Dieser Gouverneur«, sagte er, »verdient meine Dienste nicht.«
    Währenddessen beraten in London das Innen- und das Kolonialministerium
über die Empfehlung des Juristenkomitees. Soll man das Assignment abschaffen?
Der frühere Gouverneur von Van Diemen’s Land, derselbe, der das Assignment
eingeführt und auf unmenschliche Weise praktiziert hat, spricht sich jetzt
feierlich dagegen aus und nennt es die perfekte Sklaverei. Sir George Arthur
weiß, wann und wodurch er Beifall gewinnen kann.
    Der jetzige Gouverneur weiß das weniger, er kümmert sich auch nicht
darum. Er sieht in der Humanisierung des Zuteilungssystems die derzeit beste
Möglichkeit, Sträflingen außerhalb der Gefängnismauern die Chance der Bewährung
zu geben. Zugleich bekämpft er weiterhin und mit Erfolg Korruption und
Grausamkeit in den Strafanstalten. Er versucht seine Politik auf die
städtischen Bürger zu stützen, Händler, Handwerker und Reeder, die mit seinen
Zielen einverstanden sind, und beantragt in London die Umwandlung des Legislativrats
in eine aus öffentlichen Wahlen hervorgehende Kammer.
    Zur selben Zeit bittet der Koloniesekretär, angeblich aus privaten
Gründen, um einen längeren Urlaub und fährt nach England.
    John sagte lieber »der Koloniesekretär« als »Montagu« und
»der Privatsekretär« statt »Maconochie«. Aber das half nur wenig. Die Begriffe
waren ebenso düstere Vokabeln geworden wie die Namen. Auch durch die Regelung
der Sprache ließ sich der gequälte, mißmutige Kopf nicht entbittern.
    Maconochie. Montagu. Warum ärgerte er sich über zwei einzelne
Gentlemen von fragwürdigem Charakter – es gab von dieser Sorte in der Welt
Hunderte oder Tausende.
    Auch die Vogelperspektive half nicht. Wer sich von Bitterkeit
befreien wollte, um sein sorgfältiges Schauen zurückzugewinnen, der durfte
nicht ausgerechnet zum starren Blick Zuflucht nehmen.
    Daß London zur Parlamentarisierung des Legislativrats nein sagte,
war Montagus Werk. Die Folgen waren peinlich: Kaufleute und Handwerker fühlten
sich hingehalten und getäuscht. Sie glaubten, Sir John habe den ersten Schritt
nur getan, um ihnen den zweiten vorzuenthalten. »In seinen Berichten nach
London«, so hieß es, »redet er anders als mit uns.«
    Schließlich der Fall Coverdale.
    Da liegt, nach einem schweren Sturz vom Pferd, ein alter Mann im
Sterben. Seine Familie schickt zu Dr. Coverdale, einem Sträfling und Arzt

Weitere Kostenlose Bücher