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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Brillen, früher ein Symbol
für Mangel an Überblick oder bestenfalls für Gelehrsamkeit, zierten jetzt viele
Gesichter, auch jüngere.
    Ferner sah John zwei stattliche Leichenzüge und stellte fest, daß
neuerdings nicht nur die Gehröcke, sondern auch die Särge »auf Taille«
gearbeitet waren. Es sah aus, als würde ein Violoncello zu Grabe getragen.
    Eine Stunde lang blieb er in einem Buchladen. Von Benjamin Disraeli,
den er schon als kleinen Jungen gekannt hatte, gab es jetzt zwei Romane, und
Alfred Tennyson, einer von Johns Verwandten in Lincolnshire, schrieb passable
Gedichte, die sich bis nach London verkauften.
    Er ging durch den Hafen, der vom Kohlenrauch der Dampfboote
eingehüllt war. Die Sicht war immer noch klar genug: einer der Dockarbeiter
rief: »Seht, das ist Franklin! Der Mann, der seine Stiefel aß.«
    John stapfte weiter bis nach Bethnal Green und roch den fauligen
Geruch der Kellerwohnungen. Geduldig hörte er ein dünnes, höchstens
dreizehnjähriges Mädchen an, das ihn in eine dieser Wohnungen einladen wollte.
Zwei ihrer Brüder seien deportiert worden, weil sie aus einem Laden einen
halbgekochten Kuhfuß gestohlen und den verzehrt hätten. Sie wolle sich gern
ausziehen für den Herrn, ganz langsam, und dabei ein Lied singen, alles für
einen Penny. John fühlte Rührung und Beklemmung, gab ihr einen Schilling und
flüchtete ratlos. Fensterscheiben gab es hier kaum, und Türen waren unnötig,
weil die Diebe nichts fanden. Die Polizei schien verstärkt worden zu sein. Überall
lauerten wachsame Männer in Uniform, vernünftigerweise unbewaffnet.
    An der King’s Cross Station hörte John die Lokomotive fauchen und
las im Stehen eine Zeitung. Drei Millionen Einwohner jetzt. Täglich wurden
zweihundert Fuder Weizen verbacken, Tausende von Ochsen geschlachtet. Und das
war noch zu wenig.
    Die Bettler übrigens redeten zu schnell – sie wollten nicht lange
stören. Sprächen sie langsamer, dachte John, dann wäre es keine Störung,
sondern der Anfang eines Gesprächs. Aber vielleicht wollten sie gerade das
vermeiden.
    In den folgenden Wochen besuchte John seine Freunde. Die,
die noch am Leben waren.
    Richardson sagte: »Jetzt sind wir sechzig, lieber Franklin. Wir
werden außer Dienst gestellt wie alte Linienschiffe. Der Ruhm ändert daran
nichts.«
    John antwortete: »Ich bin achtundfünfzigeinhalb!«
    Dr. Brown empfing ihn zwischen Büchern und Pflanzenproben im
Britischen Museum. Er behielt während des Gesprächs vorsorglich den Daumen in
einem Folianten. Als John erzählte, was Stanley ihm angetan hatte, nahm er ihn
aus Versehen heraus und ärgerte sich über beides, den anmaßenden Lord und die
verlorene Seitenzahl. Er sagte: »Ich rede mit Ashley! Das ist ein Mann mit
Herz. Der sagt es Peel, und dann sehen wir weiter. Das wäre doch gelacht!«
    Beim jungen Disraeli traf John den Maler William Westall. Seine
Augenbrauen waren jetzt ein wirres graues Gestrüpp und verstellten ihm fast den
Blick. Er sprach abgehackt, oft nur in einzelnen Wörtern, aber er freute sich
sichtlich über das Wiedersehen. Sogleich ging es wieder um die Frage, ob man
das Schöne und Gute erst schaffen müsse, oder ob es schon in der Welt sei. John
glaubte als Entdecker an das zweite. Die besten Sätze sagte Disraeli. Es gelang
John nicht, sich auch nur einen zu merken.
    Einige Tage später besuchte er Barrow, der sehr gesund aussah und
lebhaft sprach, aber fast nur noch die Antworten »ja« und »nein« verstand.
»Nein« akzeptierte er ungern.
    Â»Selbstverständlich leiten Sie die Expedition, Franklin! Erebus und Terror liegen bereit,
das Geld ist da, die Nordwestpassage muß endlich gefunden werden. Das wäre ja
eine Schande! Was für wichtige Geschäfte sollten Sie davon abhalten?« John
erklärte es. »Das ist Stanley!« schimpfte Barrow, »er macht alles mit der
linken Hand und will dann noch recht behalten. Ich rede mit Wellington, der
spricht ein Wort mit Peel, und Peel nimmt sich Stanley vor!«
    Auch Charles Babbage schimpfte, aber in eigener Sache, wie immer.
»Die Rechenmaschine? Die durfte ich doch nicht fertigbauen! ›Zu teuer‹. Aber
für die Nordwestpassage ist das Geld da. Jedes Kind weiß, daß sie nutzlos ist –« Er stutzte, sah John unsicher in die Augen und fuhr mit weicherer Stimme
fort:

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