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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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fortgesetzt. Sie ergab, daß eine
weitere Suche nicht mehr notwendig war.
    Hundertfünf Mann waren im Frühjahr 1848 von Erebus und Terror aus aufgebrochen, aber offenbar bereits in
tiefer körperlicher und geistiger Erschöpfung. Schon bald hatte sich die
Karawane der Sterbenden in mehrere Gruppen aufgeteilt, eine davon versuchte zu
den Schiffen zurückzukehren. Manche Männer hatten Tafelsilber mit sich geschleppt,
vielleicht um es bei den Eskimos gegen Nahrung zu tauschen. Andere hatten
schwere Boote übers Eis gezogen, die sie irgendwann liegenlassen mußten, meist
mit einem Teil der Lebensmittelvorräte. Neben einem der Boote fand McClintock
mehrere Skelette und vierzig Pfund noch gut genießbarer Schokolade. In einer
Bucht an der Mündung des Großen Fischflusses lag dann eine große Zahl weiterer
Skelette, meist noch bekleidet mit ausgebleichten, aber vollständig erhaltenen
Uniformen.
    McClintock nannte die Bucht Starvation Cove, »Hungerbucht«. Er traf
einige Eskimos, die sich an die Schiffe im Eis erinnerten oder davon gehört
hatten, daß sie im Herbst 1848 gesunken seien. Eine alte Frau hatte sogar den
letzten Marsch der Weißen von ferne beobachtet: »Sie starben im Gehen. Sie
fielen hin, wo sie gerade gingen und standen, und waren tot.« Warum hatten die
Eskimos den Weißen nicht geholfen? »Es waren schrecklich viele, und wir
hungerten selbst so schlimm wie nie zuvor.«
    Der Kapitän tauschte eine Reihe von Fundsachen ein: Silberknöpfe,
Besteck, eine Taschenuhr, sogar einen der Orden Franklins. Er fragte nach
Büchern, Heften. Ja, Papierbündel hätten sie auch gefunden und ihren Kindern
zum Spielen gegeben. Jetzt sei nichts mehr davon übrig. Enttäuscht verließ
McClintock die Eskimohütten und ging zurück zur Starvation Cove.
    Da sich immer noch Lebensmittel fanden, glaubte niemand an eine nur
vom Hunger verursachte Katastrophe. Die nächstliegende Antwort hieß: Skorbut.
Die Untersuchung der Skelette ergab, daß vielen die Zähne ausgefallen waren.
Sie ergab aber vor allem noch eines: der um sein Leben kämpfende Rest der
Mannschaft hatte an diesem Ort zum letzten, verzweifelten Mittel gegriffen:
McClintock fand abgetrennte Knochen mit glatten Schnittflächen, die nur von
einer Säge stammen konnten. Der Schiffsarzt hockte ihm gegenüber, ihre Blicke
trafen sich.
    Der Arzt flüsterte: »Von meinem Standpunkt aus … Skorbut ist eine
Mangelkrankheit. Dem Fleisch eines Menschen, der daran gestorben ist, fehlen
genau die Stoffe, welche die Kranken zum Überleben nötig hätten. Es hat also
nicht einmal –«
    Â»Sprechen Sie ruhig weiter«, sagte McClintock.
    Â»Es hat nichts genützt«, sagte der Arzt.
    Als man die Gebeine versammelt hatte, um sie zu begraben, sagte
McClintock: »Es war eine würdige und tapfere Schiffsmannschaft. Die Zeit war zu
lang für sie. Wer nicht weiß, was Zeit ist, versteht kein Bild, und dieses auch
nicht.«
    Der einzige, der ihm nicht zuhörte, war der Photograph der
»Illustrated London News«, der eilends seinen Apparat, System Talbot, in
Stellung brachte, um den Zustand der Skelette im Bild festzuhalten.

 
    Nachwort
    Zu Beginn dieses Jahres, in dem ich das Rentenalter erreiche,
schlug der Verlag vor, daß jemand aus dem Kreis meiner Freunde und Kollegen für
die Neuauflage von »Die Entdeckung der Langsamkeit« ein Nachwort schreiben
solle. Ich war dagegen, denn ich mochte diese Verpflichtung niemandem zumuten.
Zudem fürchtete ich, daß da etwas allzu Höfliches und Freundliches
zustandekommen würde, durch das Leser sich in ihrem Urteil gelenkt fühlen
könnten – wer es guten Mutes bis zum Ende eines Romans geschafft hat, will
nicht unversehens auf eine Geburtstagsfeier geraten (noch dazu mit einer
Verabschiedung in die Rente). »Ich schreibe selbst etwas«, sprach ich kühn und
meinte, das würde mir leichtfallen. Ich erkannte noch nicht, daß ich vom Regen
in die Traufe kam. Jetzt konnte die Sache erst richtig peinlich werden: Wenn
ein Roman schon fast ein Vierteljahrhundert im Buchhandel ist, sollte sein
Verfasser nicht mehr sagen, was ihm damals seiner Meinung nach gelungen ist
oder nicht. Das Buch gehört nicht mehr ihm, viele haben es auf ihre Weise
gelesen, für sich gedeutet, vielleicht zum Autor Vertrauen gefaßt, gerade weil
er nicht seine Absichten erklärt, sondern nur die

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