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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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wußte noch gut, wie meine Mutter zum Romanschreiben gefunden
hatte. Zunächst hatte sie kapriziöse Feuilletons geschrieben, beherrschte die
Effekte und alles Artistische – sozusagen Pirouette, Doppelaxel und Rittberger,
vor allem den Rösselsprung, um rasch das Thema zu wechseln. Erst als sie sich
hinsetzte, um ganz chronologisch für meinen Vater die Geschichte des Hauses am
Chiemsee aufzuschreiben, simpel und sauber der Reihe nach aufgeklebt wie in
einem Familienalbum, kam sie dem Er-zählen näher, das mit Zählen viel zu tun
hat. Brillanz konnte sich bei Bedarf wieder hinzugesellen und tat es, aber den
Kurs bestimmte die Liebe zur Geschichte.
    Ich reiste nach England, las im Lesesaal der British Museum Library,
aber nicht auf dem Platz von Karl Marx, alles nur Mögliche über Franklin.
Außerdem fuhr ich nach Spilsby, machte von dort eine Fußwanderung nach Skegness
an der Küste, besichtigte Louth, und in Portsmouth studierte ich Nelsons
»Victory«. Dann setzte ich mich in Berlin an den Schreibtisch.
    An der Beschreibung von John Franklins Kindheit im Dorf scheiterte
ich zunächst deutlich. Zu putzig, zu niedlich geriet mir alles, zu sehr zum
Klischee von Kindheit. Meine Mutter, so liebevoll sie mich wahrnahm und so treu
sie in jeder Lage zu mir gehalten hat, in Qualitätsfragen war sie von
spontaner, durch nichts zu bremsender Grausamkeit. Sie sagte über den ersten
zwanzigseitigen Versuch: »Es hat einen unguten Jugendbuchton, man denkt an
einen abwaschbaren Einband.«
    Ich legte das Zeug wieder weg und stürzte mich in meinen Beruf,
inzwischen war ich Lehrer an einem Spandauer Gymnasium. Das blieb ich nicht
allzu lange, weil ich trotz der sicheren Versorgung im Staatsdienst 1917 doch
lieber »zum Film« wollte. Umsonst war die Lehrerzeit nicht. Ich habe dort etwa
die Merkwürdigkeit beobachtet, daß die Prüfung von Schülerleistungen fast immer
eine Prüfung der Schnelligkeit ist, mit der die Zusammenhänge wiedergegeben
oder die Aufgaben gelöst werden. Diese Merkwürdigkeit erscheint der
»zielorientierten« Institution Schule unumgänglich, wenn sie sie überhaupt noch
wahrnimmt. Tatsache ist aber, daß schon die Stundenklingel Hermes, den Gott der
Umwege und der glücklichen Funde im Vorbeigehen, brutal in die Flucht schlägt.
Die kindliche Seite des Forschens, die Originalität, das Erkennen von bisher
nicht Bekanntem durch unbefangenes, selbstvergessenes Hinschauen ohne Eile, all
das hat Mühe, sich durch den Trott und Notendruck der Schuljahre hindurchzuretten – die Besten schaffen es trotzdem.
    Â»Beim Film« war ich erst Produktionsfahrer, dann Aufnahmeleiter. Ich
konnte Autofahren, aber im übrigen war meine Eignung gering. Beim Militär hatte
ich hin und wieder das Gefühl gehabt, zu langsam zu sein, jetzt lernte ich, daß
es davon noch Steigerungen gab. Trotzdem war ich unter den Filmleuten bei
weitem glücklicher als in der Schule, denn alles ließ sich lernen, und jedes
Lernen wirkte sich aus: jeder im Team mußte dafür geradestehen, daß seine
Arbeit wirklich zum Gelingen des Films beitrug, und wenn er dafür mehr Zeit
brauchte, dann mußte er das mutig einfordern. Jede Hudelei zeitigte Fehler und
war allzuoft später im Bild für die ganze Branche sichtbar. Undenkbar, daß Kameraleute,
Szenenbildner, Requisiteure, Cutterinnen sich vom »Zeit-ist-Geld«-Terror so
weit einschüchtern ließen, daß sie Schrott lieferten – das fiel auf ihren Namen
zurück und verminderte ihre künftigen Chancen. Außerdem waren wir beim
Spielfilm und nicht beim Fernsehen (heute verschwimmen diese Grenzen).
    Ich kann also sagen, daß die Romanfigur John Franklin meinen
Lehrerjahren und mehr noch der Zeit als »Filmschaffender« etwas Entscheidendes
verdankt: das Grundthema. Daß ich die filmischen Möglichkeiten der
beschleunigten und der verlangsamten Wahrnehmung kennenlernte, hat das noch
verstärkt. In einer kleinen Filmfirma im Schwäbischen stand mein Bett wenige Meter
von einem Schneidetisch entfernt – ich habe nächtelang herumexperimentiert, und
hier entstand auch die Idee, John Franklin könnte die Vorgänge mit einer
anderen inneren Uhr wahrgenommen haben als andere. Ich sah darin zunächst nur
die Chance, die Figur unverwechselbar und interessant zu machen, trotz einer
zwar ereignisreichen, aber nicht übermäßig originellen

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