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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Pumpen waren zu hören, vielleicht brannte es? Oder machte das
Schiff Wasser? An Deck taumelten die Leute herum wie betrunken. Der Kapitän saß
auf einer Kanone und rief: »Laßt uns alle zusammen sterben!« Vorher hatte es ja
anders geheißen. Neben dem Kapitän fehlte plötzlich der Kopf eines Zuhörers und
damit der Zuhörer selbst. John wurde unglücklich. Er geriet bei allen jähen
Veränderungen in Verwirrung, seien es Sitzordnungen, Verhaltensweisen oder
Koordinatensysteme. Das ständige Fehlen von immer neuen Leuten war schwer
auszuhalten. Er empfand es zudem als tiefe Erniedrigung für einen Kopf, wenn er
als Folge der Handlungen ganz anderer Menschen so ohne Vorrede seinen Körper
einbüßte. Es war eine Niederlage und nicht etwa eine Ehre. Und ein Körper ohne
Kopf, was für ein trauriger, ja lächerlicher Anblick.
    Als er wieder im Geschützdeck war, gab es jäh eine scharfe Helligkeit
und großes Getöse: ein Schiff in der Nähe war explodiert. Er hörte »Hurra«,
dazwischen immer wieder einen Schiffsnamen. Mitten im Hurra aber kamen ein
durchdringendes Knarren und Krächzen und ein Stoß: ein dänisches Schiff legte
sich längsseits. Und durch die zerrissene Stückpforte sprang einer herein.
    John fing das Bild eines hellen, fremden Stiefels auf, der plötzlich
hereinfuhr und Halt fand, eine schnelle, bedrohliche Bewegung, über der John,
weil das Bild in ihm stehenblieb, alle weiteren Vorgänge nicht erfaßte. Sein
Kopf dachte automatisch: Wir zeigen es ihnen!, denn dies war die Situation, an
die er gedacht hatte, als er dem Satz zum erstenmal begegnet war. Das nächste,
was er sah, war der geöffnete Mund ebendieses Mannes und seine, Johns, Daumen an
dessen Hals. Irgendein Zufall hatte den anderen zum Unterliegen gebracht, jetzt
konnte er ihn fassen, er!
    Wenn John einen gepackt hatte, gab es kein Entkommen. Nun sah er an
der unteren Peripherie seines Blicks die Pistole auftauchen. Das lähmte sofort.
Er sah gar nicht hin, behielt lieber seine starken Daumen im Auge, als könnte
er ihnen damit den Sieg über die Pistole erzwingen, die sich, nicht zu leugnen,
auf seine Brust richtete. Im Kopf begann sich eine einzige Sorge gegen alle
anderen durchzusetzen, sie wuchs und wuchs. Sie hielt keinerlei Grenzen ein,
sie explodierte: der konnte sofort abdrücken und ihn töten, daß er sterben
mußte oder langsam brandig zugrunde ging. Das war jetzt da, kein Ausweichen
möglich. Es stand bevor und war nicht abzuwandeln. Ganz klar fühlte John
plötzlich, wo sein Herz saß, wie jeder, der weiß, daß der Tod perfekte Sache
ist. Warum konnte er nicht die Pistole wegschlagen oder sich zur Seite werfen?
Unerfindlich, aber er konnte nicht! Er hatte den da an der Kehle und dachte nur,
daß einer, der erstickt ist, keine Pistole mehr abfeuert. Daß aber einer, der
noch nicht erstickt ist, sondern am Ersticken, weil ihn ein anderer würgt, die
Pistole erst recht abfeuert, ja, das wollte John vielleicht denken, konnte aber
nicht, denn hier stellte sich sein Gehirn bereits tot. Lebendig blieb nur die
Vorstellung, durch fortgesetztes äußerstes Würgen jener Kehle die Gefahr zu
bannen. Der andere schoß immer noch nicht.
    Es war ein Mann, für einen Soldaten alt, bestimmt über vierzig. John
hatte noch nie auf jemandem gekniet, noch nie auf jemanden heruntergesehen, der
sein Vater hätte sein können. Die Kehle war warm, die Haut weich. John hatte
noch nie einen Menschen so lange angefaßt. Jetzt war das Chaos wirklich da, die
Schlacht innerhalb seines Körpers. Denn die Nerven, die zu seinen Fingern
gehörten, fühlten während des Zudrückens ein Entsetzen über diese Wärme und
Weichheit. Sie fühlten, wie die Kehle – schnurrte! Sie vibrierte, zart und
elend, ein tief elendes Schnurren. Die Hände waren entsetzt, aber der Kopf, der
die Erniedrigung des Getötetwerdens fürchtete, dieser Verräterkopf, der dabei
noch falsch dachte, tat, als verstünde er nichts.
    Die Pistole fiel herunter, die Beine hörten auf zu treten, der Mann
rührte sich nicht mehr. Schußwunde an der Schulter, helles Blut.
    Die Pistole war nicht geladen gewesen.
    Hatte der Däne nicht noch irgend etwas gesagt, hatte er sich
ergeben? John saß da und starrte dem Toten auf die Kehle. Gefürchtet hatte er
die Erniedrigung des gewaltsamen Todes. Aber selber einen Organismus

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