Die Entdeckung der Langsamkeit
2. Juli
1801. Liebe Eltern!« Er leckte sich die Lippen und schrieb ganz ohne Klecks â
wahrscheinlich war es Master Wright-Codd, der Lehrer, der ihnen den Brief
vorlas.
»Für das Schiff wird dies die längste Reise sein, die es je gemacht
hat. Ich freue mich, daà ich dabei bin, noch dazu als Volontär erster Klasse.
Der Kapitän wehrt allen Dank ab und sagt, John Franklin hätte sich für mich
eingesetzt. Kapitän möchte ich auch werden. Mit John war ich in London. Er ist
seit Kopenhagen noch langsamer und brütet viel vor sich hin. Nachts träumt er
von den Toten. John ist ein guter Mensch. Zum Beispiel kaufte er mir eine
Seekiste genau wie seine eigene. Sie ist kegelig gebaut, sehr tief und hat
viele Fächer. Unten läuft eine dicke Scheuerleiste um sie herum. Die Griffe
sind Schlaufen aus Hanfseil. Der Deckel ist mit Segeltuch bespannt. Auf dem
schreibe ich.« Er schob den Bogen weiter hinauf, leckte die Lippen und tauchte
den Kiel ein. Die Seite war erst halb voll.
»Ein Rasierzeug bekam ich auch geschenkt, weil John sagte, irgendwo
in der Terra australis würde es bei mir so weit sein. AuÃerdem hat er mir die Stadt
erklärt. Die Leute grüÃen sich nicht, weil sie sich nämlich gar nicht kennen.
Auf dem Schiff ist auch Johns Tante Ann (Chapell), sie ist ja jetzt die Frau
des Kapitäns. Er nimmt sie mit bis auf die andere Seite der Erde. Sie fragt
mich manchmal, ob ich etwas brauche. Ich bin gespannt und zufrieden. Ich höre
jetzt auf mit dem Schreiben, weil es auf dem Schiff eine Menge zu tun gibt.«
Kapitän des Schiffes war niemand anderes als Matthew,
endlich wiedergekehrt, nachdem man ihn schon zu den Verschollenen gerechnet
hatte. John Franklin war eben fünfzehn Jahre alt geworden.
»Es geht ihm nicht besonders«, sagte sogar Matthew, und da er jetzt
Johns Onkel war, nahm er ihn noch nachdrücklicher gegen andere in Schutz, zum
Beispiel gegen Leutnant Fowler.
Oft stand John ratlos herum, immer dort, wo er störte. »Der ist
wirklich keine Kanone«, meinte Fowler. »Ein schlechter Mann ist er nicht«,
sagte Matthew, »nur im Moment noch schwerhörig von der Schlacht.« Fowler dachte
bei sich: Die ist schon einen Monat her.
Ein Deck tiefer sprach Sherard: »John ist nämlich unheimlich stark.
Er hat mit der bloÃen Hand einen Dänen erwürgt. Mein Freund war er aber schon
vorher!«
Wenn John davon etwas mitbekam, litt er noch mehr. Zwar meinten sie
es gut, und er wollte sie keinesfalls enttäuschen. Aber zu helfen wuÃte er sich
nicht, und bei solchem Lob noch weniger. Nachts träumte er, wenn nicht wieder
die Erschlagenen auf dem Meeresgrund erschienen, von einer seltsamen Figur. Sie
war symmetrisch glatt ohne Kanten, eine freundliche, geordnete Fläche, nicht
ganz Viereck und nicht ganz Kreis, mit gleichmäÃiger Innenzeichnung. Plötzlich
aber konnte sie sich in etwas Verworrenes und Splittriges verwandeln. Sie fuhr
zu einer ungeometrischen Fratze auseinander und war so garstig und bedrohlich,
daà John schweiÃbedeckt aufwachte und Angst vor dem Wiedereinschlafen hatte. Er
fürchtete sich schlieÃlich vor der glatten, symmetrischen Figur fast mehr als
vor dem Schrecklichen, was daraus wurde.
Die Investigator, vormals Xenophon, war eine in Ehren brüchig gewordene Korvette.
Mitten im Krieg gegen Frankreich konnte die Admiralität für Forschungsreisen
ein besseres Schiff nicht entbehren. »Wenn ich das schon höre: Forschung«,
sagte der Stückmeister Colpits, »dann weià ich gleich: klar bei Lenzpumpen! Wenn
man das Schiff wenigstens nicht umbenannt hätte. Es fordert das Schicksal noch
mehr heraus!« Mr. Colpits war ein Tagewähler. In Gravesend hatte er sich alle
Unglückstage für die nächsten drei Jahre aufschreiben lassen. Die Sterndeuterin
hatte gesagt: »Sie müssen achtgeben, daà Sie nicht mit dem Schiff verloren
gehen. Wenn Sie bei der Strandung davonkommen, werden Sie ein langes Leben
haben.« Es sprach nicht für Mr. Colpits, daà die Mannschaft das bereits in
Sheerness auswendig kannte.
Als Matthew vor Antritt der Fahrt die Regeln verlas, schob er die
Unterzähne vor und sagte in scharfem Ton: »Die Sterne verraten uns nur, wo das
Schiff sich befindet â sonst nichts!«
Fast alle in der Mannschaft stammten aus Lincolnshire. Es
war, als habe Matthew unter den Bauernsöhnen dieser Gegend die wenigen,
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