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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Denkmal auf dem Fishstreet Hill
bestiegen, zählte er dreihundertfünfundvierzig Stufen. Ein kalter Frühling,
überall roch es nach Kohlenrauch. In der Ferne sah man Schlösser, die sich an
grüne Parks klammerten. Einen Epileptiker betrachtete er, der entweder mit der
Stirn schlug oder weit weg starrte. Wegelagerer gebe es, hörte er, aber in
Tyborn stehe ein Galgen. Als Midshipman, sagte der ältere Bruder, habe man sich
wie ein Gentleman zu benehmen. Auf dem Markt sahen sie dann noch einen Streit.
Es ging um einen Fisch, der vielleicht künstlich aufgeblasen worden war,
vielleicht aber auch nicht.
    Von überall her sah man die Masten der Schiffe mindestens ab den
Bramrahen aufwärts. Die tausend Kamine der Stadt waren alle eins tiefer. Daß
Schiffe sich mit Hilfe des Windes nach wohlüberlegten Plänen über das Meer
bewegen konnten, war kaum zu begreifen, auch wenn man Moores »Praktischen
Navigator« auswendig kannte. Segeln war etwas Königliches, und die Schiffe
sahen auch so aus. Er wußte ja, was dazu gehörte, um die ganze Leinwand zum
Stehen zu bringen. Vorher mußte man die Rümpfe bauen, das ganze gebogene,
versplintete und verschraubte Holz, sorgsam gerieben und kalfatert und gelabsalbt,
exakt bemalt, oft beschlagen mit Kupferteilen. Die große Ehrwürdigkeit eines Schiffs
kam von den vielen Stoffen und Verrichtungen, die zu seinem Bau nötig waren.
    Bumm!
    Das war der Trekroner, und die Schlacht!
    Benehmen wie ein Gentleman. Beim Geschütz so wenig wie möglich im
Weg stehen. Vom Batteriedeck zum Achterdeck rennen und zurück. Befehle
möglichst sofort verstehen oder, wenn nicht möglich, energisch Wiederholung
erbitten. »Hört mal, Männer«, rief der Offizier mit dem hohen Schädel, »sterbt
nicht für euer Vaterland!« Pause. »Sorgt dafür, daß die Dänen für das ihre
sterben!« Schrilles Gelächter, ja, so feuerte man die Leute an! Im übrigen
wurde die Schlacht wohl recht schwer. Der Trekroner und die anderen Geschütze
trafen in einem fort. Für einen, der immer etwas spät reagiert, geht bei
solchen Stößen jeder Halt verloren. Am schlimmsten waren die eigenen Breitseiten.
Das Schiff schien jedesmal einen Satz zu machen. Die gute Ordnung ging weiter,
wie er sie gelernt hatte. Nur war ihr Zweck jetzt, dem Gegner das Chaos zu
schicken, und das kam wieder zurück mit jener Plötzlichkeit, die John nicht
liebte. Von einem Augenblick zum anderen trug die schwarze Kanone an der Seite
einen widerwärtig gleißenden tiefen Kratzer, fast eine Furche, wie von einem
ausgerutschten, maßlos kräftigen Werkzeug. Das ekelhafte Schillern dieser
Metallwunde prägte sich tief ein. Im Moment stand niemand mehr aufrecht. Wer
konnte denn noch aufstehen? Die Handgriffe waren eingelernt, jetzt stockte die
Zuarbeit, denn die Hälfte war nicht mehr dabei. Dann das Blut. So viel davon
schwimmen zu sehen machte besorgt. Schließlich fehlte es ja irgend jemandem, es
lief aus den Menschen heraus, überall.
    Â»Keine Betrachtungen! Ans Rohr!« Das war der, der vorhin: »Ein
Zeichen« gerufen hatte. Plötzlich war die Stückpforte viel weiter geöffnet als
je zuvor. Das dort fehlende Holz bedeckte mittschiffs mehrere Körper. Wem gehörten
die?
    An Deck erfuhr er, drei von zwölf Schiffen seien auf Sand gelaufen,
die Polyphemus aber nicht. An der Seite eines anderen
Schiffs ganz in der Nähe quoll weißer Rauch auf. Das Bild blieb in Johns Auge stehen.
Auf der Polyphemus fuhr vielerlei zerrissenes Holz
blitzschnell über das Deck, dabei kreisend und mähend. Mit Bekümmerung sah
John, wie selbst die sonst so ruhigen Offiziere, die niemals auszuweichen
brauchten, ganz würdelos beiseite sprangen. Natürlich handelten sie richtig,
aber es blieb eine entwürdigende Bewegung. Er überbrachte die Meldungen.
    Jetzt sahen alle Niedergänge ganz anders aus. Hindernisse standen
aus der Wand, Balken lösten sich von oben und pendelten in Höhe seiner Stirn.
Da er weder ausweichen konnte noch stehenblieb, empfing er von dem splitternden
Schiff Kratzer, Stiche und Beulen, die ihn bestimmt aussehen ließen wie einen
Helden. Er versuchte sich jederzeit zu benehmen wie ein Gentleman. Ein Auge
konnte man leicht verlieren, Nelson hatte auch nur eins. Was dachte Nelson
jetzt? Er stand irgendwo auf dem Achterdeck des Elephant. Nelson würde immer alles erfahren.
    Die

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