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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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seufzte
Dr. Brown.
    Als das Schiff bei sanftem Südwind die Insel wieder
verließ, waren nur Franklin und Taylor auf dem Achterdeck, die anderen aßen.
Taylor sah eine rote Staubwolke, die aus Nordosten über das Wasser kam. Beide
folgerten daraus zunächst nichts. John dachte: Wüste. Er stellte sich vor, wie
der Wind den roten Sand der Sahara emporhob, wie er ihn über die Küste hinaus
und über das dunkle Meer hinjagte, vielleicht bis nach Südamerika. Irgend etwas
schien John sonderbar. »Halt!« sagte er, und Minuten später: »Die Wolke hat
doch …« Wieder etwas später standen schon alle Segel back, die starke Bö aus
Nordost fuhr in den schwachen Südwind hinein und rupfte die Takelage der Investigator. Eine der Spieren kam klatschend herunter, und
ein großer Block aus Ulmenholz erschlug eine der Katzen – aber nicht den Kater
Trim. Die Sache verlief noch glimpflich. Alle aßen von einer aufgefischten
Riesenschildkröte und tranken einen Schluck Malvasier auf das Wohl der toten
Katze.
    John dachte nach. Er hatte es gesehen und doch ratlos
herumgestanden. Gewiß, wer eine Gefahr erkennen wollte, mußte erst einmal
schauen. Aber beim Handeln brauchte man dann das Eingelernte, die Blindheit.
Statt »Halt, die Wolke …« hätte er rufen sollen: »Wind schlägt um.« Gut sechs
Minuten Zeit wären geblieben, um durch Abfallen und gleichzeitiges Anbrassen
die Spieren zu schützen. Man hätte sogar noch die Bramsegel bergen können. John
kam zu der Überzeugung, daß er auch alles Unvorhersehbare üben müsse.
Irgendwann wollte er einmal ein Schiff retten, indem er schnell und richtig
handelte.
    Sherard fragte ihn ab: »Es ist Sturm, und der Leeraum reicht zum
Halsen nicht aus.« Oder: »Mann über Bord bei Hart-am-Wind-Kurs!« John nahm sich
jedesmal genau fünf Sekunden, um vor seinem inneren Auge alles gut betrachten
zu können. Dann kam die Antwort: »›Mann über Bord‹ rufen. Tagrettungsboje zum
Mann werfen, aber nicht auf den Mann – bei Nachtrettungsboje egal, da ohnehin
dunkel. Beidrehen, Leeboot zu Wasser. Einer behält Mann immer im Auge.« »Gut«,
sagte Sherard, »jetzt siehst du Flammen im Vorschiff!« Fünf Sekunden, Atemholen
und: »Sofort abfallen auf Raumkurs, Luken dicht, Geschütze entladen, Kartuschen
über Bord, Pulverkammer zu, Riegel vor, Speigatten verstopfen, Boote an den
Rahen anschlagen zum Wasserwippen …« Hinter ihm stand längst Matthew. »Nicht
schlecht«, meinte er. »Du fängst vielleicht etwas spät mit dem Löschen an.«
John verstand langsam und wurde rot. Kleinlaut murmelte er: »An die Putzen …«
    Wochenlang kein Land. Es war jetzt so warm, daß auch
nachts keiner mehr in der Jacke herumlief. John spürte wohlig die Ruhe des
Meeres, eine Ruhe, die von der Windstärke ganz unabhängig war. Die Mannschaft
arbeitete immer besser. Sogar Stückmeister Colpits wurde freundlicher, obwohl er
mit seiner Munition nur friedlichen Zwecken dienen konnte. Als Stanley Kirkeby
sich am Arm verletzt hatte und fieberte, mußte er eine Mischung aus
Schießpulver und Essig einnehmen. Schnell war er wieder auf den Beinen.
    Im Traum sah John eine neue Figur. Das mondhelle nächtliche Meer
wuchs zu einer eigenen Gestalt auf, es bäumte sich empor zu einer gelockten
Wasserwolke, die spiralenförmig um sich selbst kreiste, nach oben im Umfang
zunehmend wie eine wuchernde Pflanze, wie ein flackernder und brennender Busch
aus Wasser oder ein Strudel, aber nicht aus Wind und Strömung, sondern aus
eigener Kraft. Das Meer gab sich selbst einen Körper, es konnte sich neigen,
Haltungen einnehmen, Richtungen anzeigen. Aus der scheinbar ewigen Geraden des
Horizonts stieg im Traum mühelos diese riesenhafte Figur auf, sie war wie eine
Wahrheit, durch die alles anders werden mußte. Himmelwärts öffnete sich ein
Krater, ein Mund oder Schlund. Vielleicht war das Ganze ein Leviathan,
vielleicht ein Tanz von Millionen kleiner Wesen. John träumte das oft. Manchmal
folgten nach dem Aufwachen lange Gedanken. Mary Rose in Portsmouth fiel ihm
ein, und daß es bei Frauen nicht auf einen äußeren, sondern auf einen
verborgenen inneren Zeitpunkt ankam. Ein andermal sann er über den Zug des Volkes
Israel durchs Rote Meer nach und vermutete, daß nicht Gott, sondern das Meer
selbst für Rettung

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