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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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hochbordigen Klötze, vollbeladen mit Pulver und
Eisen, zum Schießen besser geeignet als zum Fahren, und lauerten auf die Franzosen.
    Â»Nie wieder!« sagte John erleichtert. Sie fuhren in Gewässer
außerhalb Europas, wo es nur um Beobachtungen und gute Karten gehen würde. Die
schöne fremde Welt – er mußte sie jetzt wirklich sehen, sonst konnte er nicht
mehr an sie glauben. Das Meer selbst mußte ihn aus dem Kleinmut herausholen.
Ein Kind war er nicht mehr. Als Sherard einmal wie früher sagte: »Ich passe auf
wie Adler!«, da überkam es John seltsam, als müsse er weinen über Verlorenes.
    Aber jetzt war er unterwegs.
    Wer zur See fährt, kann nicht lange verzweifelt sein. Es
gibt dafür auch viel zuviel Arbeit. Matthew trainierte seine Bauernmannschaft,
bis ihr die Augen im Stehen zufielen. John lernte nicht nur alle Manöver und
Gefechtsrollen, sondern auf dem ganzen Schiff jeden Block, jeden Beschlag, jede
Naht. Er wußte, wo sich Taue und Ketten bekniffen, wie man Augen in ein Ende
einschor, Taklings spleißte, Stengen laschte. Die Kommandos für sämtliche
Segelmanöver konnte er auswendig, und das waren viele. Sorge bereitete nur der
Kater Trim, eine graugetigerte Schönheit ohne jedes Mitleid. Das Tier saß in
der Fähnrichsmesse mit bei Tisch und hatte bald herausgefunden, daß man dem
langsamsten Midshipman leicht mit einem Pfotenschlag ein Stück Braten von der
Gabel hauen konnte, um es dann an einem geschützten Ort zu verzehren. Das
Manöver glückte viel zu oft. Die Tischgenossen warteten schon darauf, sie
verschluckten sich fast vor Lachen. Unwillig bemerkte John, wie Trim dadurch
immer beliebter wurde. Es war aber eine derjenigen Sorgen, über denen man die
größeren vergessen konnte.
    Die schlimme Figur erschien nachts immer seltener. Im Traum war John
jetzt mehr mit dem Segelsetzen beschäftigt. Er hörte seine eigene Stimme
gellen: »Schot vor. An die Marsfallen. Hol steif. Hiß Marssegel. Fest
Marsfallen …«, und das Schiff tat zuverlässig, was es sollte.
    Zu Beginn des Navigationsunterrichts sagte Matthew, er
glaube nicht, daß irgend jemand in der Welt Gutes verrichten könne, ohne die
Sterne bei Stand und Namen zu kennen. Dann erklärte er den Himmel und den
Sextanten. John wußte schon Bescheid, aber er hatte das kostbare Instrument jetzt
zum ersten Mal in der Hand. Die Spiegel und Meßstriche auf der Segmentskala
stimmten auf einen sechzigstel Zoll genau. In der Mitte drehte sich ein Lineal
mit dem orientalischen Mädchennamen Alhidade. John lernte als erstes, daß ein
Sextant nicht zu Boden fallen durfte, und dann, wie man ihn bediente. »Entweder
genaue Zahlen oder beten, ein Drittes gibt es nicht!« sagte Matthew. Wenn er
durch den Peildiopter spähte, sah er selbst aus wie ein Präzisionsinstrument:
das linke Auge geschlossen und von scharfen Sechzigstel-Zoll-Fältchen umgeben,
die Nase gerümpft, die Oberlippe gekraust wie im Ausdruck tiefster Verachtung
für alles Ungefähre. Das Kinn war zurückgenommen, soweit das bei Matthew ging.
Da stand einer und wußte genau zu schauen, bevor er handelte. John und Sherard
waren sich darüber einig, daß sie Matthew am meisten liebten, wenn er peilte.
    Dann die Chronometer, von Matthew liebevoll Zeithüter genannt. Nur
wenn man die genaue Greenwicher Zeit hatte, konnte man ausrechnen, bis zu
welcher Länge man nach Westen oder Osten vorgedrungen war. Die Zeithüter waren
einzeln in langer Handarbeit gebaut worden und trugen stolze Namen: Earnshaw’s
Nr. 520 und 543, Kendall’s Nr. 55, Arnold’s 176. Jeder hatte sein eigenes Gesicht – schwarze Ornamente auf schneidigem Weiß –, und jeder ging auf seine Weise ein
wenig vor oder nach. Nur gemeinsam verbürgten sie Genauigkeit. Durch ständiges
Vergleichen kam jede Eigenwilligkeit des einzelnen sofort an den Tag. Uhren
waren Geschöpfe. Das größte Wunder an ihnen war, daß ihre starke Federkraft
durch die geheimnisvolle Ankerhemmung vollkommen gleichbleibend wirkte. Ging
ein Zeithüter nur um eine Minute nach, so vertat man sich bei der
Positionsberechnung schon um fünfzehn Seemeilen. Auch der Kompaß, Walker’s Nr. 1, war eine respektable Figur. Er hatte die Neigung, überempfindlich zu
reagieren, besonders wenn Kanonen in der Nähe waren.
    Gern betrachtete John Land- und Seekarten. Er starrte

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