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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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sie so lange
an, bis er jeden Strich zu verstehen meinte und alle Gründe für die Gestalt der
Erde in diesem Gebiet. Küstenstrecken beurteilte er danach, wievielmal der Weg
von Ingoldmells nach Skegness in sie hineinging – das war ein brauchbares Maß.
»Eine Karte ist im Grunde etwas Unmögliches«, sagte Matthew, »denn sie
verwandelt Erhabenes in Ebenes.«
    Am liebsten sah John zu, wenn die Geschwindigkeit gemessen wurde.
Als er zum ersten Mal selbst messen durfte und gefühlvoll die Logrolle ablaufen
ließ, war er endlich ganz und gar froh. Nach einem Vorlauf von achtzig Fuß
stand das Scheit richtig, der Anfangsknoten flutschte heraus, und Sherard
drehte das Glas um. Achtundzwanzig Sekunden liefen Sand und Leine, dann hielt
John fest und prüfte. »Drei Knoten und ein halber, berühmt ist das nicht.« Er
maß gleich noch einmal.
    John hätte sogar nachts Logleine und Sanduhr mit in die Koje
genommen, wenn er hätte messen können, wie schnell ein Mensch schlief oder
wieviel Fahrt seine Träume machten.
    Matthew hatte seine Spleens. Tag für Tag ließ er Hängematten
lüften, Wände mit Essig abwaschen und die Decks mit dem »heiligen Stein«
schrubben. Das polternde Geräusch dieses Scheuerblocks weckte morgens die
letzten Schläfer.
    Oft wurden zum Essen Sauerkraut und Bier verordnet, und ein großer
Vorrat an Zitronensaft stand bereit. So wollte Matthew den Skorbut überwinden.
»Bei mir stirbt keiner«, sagte er drohend, »höchstens Nathaniel Bell am
Heimweh.«
    Â»Oder wir alle, aber nicht an einer Krankheit«, raunte Colpits im
Kreis der Unteroffiziere. Er war jetzt wieder überzeugt, daß die prophezeite
Strandung doch noch kommen würde. Es gab aber noch eine dritte Möglichkeit. Das
Schiff machte pro Stunde zwei Zoll Wasser. Der Zimmermann kroch stundenlang in
der Bilge herum, kam mit blassem Gesicht wieder an Deck und bat Matthew um ein
Gespräch unter vier Augen. Sofort entstanden Gerüchte.
    Â»Ich wette, eine der Planken ist aus Vogelbeerholz«, vermutete
einer, »das wird uns zu den Fischen bringen!« »Red keinen Unsinn!« schrie
Mockridge. »Seht hier die Decksplanke aus Wacholder, die gleicht jede böse Wirkung
aus!«
    Es wurde viel geredet während des Pumpens, und gegen eine alte
Geschichte hilft kein Verstand, vor allem wenn sie sich zu bestätigen scheint.
Nach drei Tagen wurden die Gesichter noch länger. »Jetzt genehmigt sie sich
schon vier Zoll pro Stunde«, sagte der erste Leutnant, »bald brauchen wir keine
Katzen mehr, die Ratten ersaufen von selber.«
    Madeira! John war wieder an Land. Der Boden stand so fest,
daß die Beine ungläubig wackelten. Der Krieg rückte wieder näher: eben waren
die Soldaten des 85. Regiments an Land gebracht worden und verjagten rund um
die Stadt Funchal alle Kaninchen und Eidechsen durch fortwährendes Schanzen.
Funchal sollte gegen einen französischen Angriff verteidigt werden. Dieser aber
drohte nur deshalb, weil sie dort schanzten. England hatte das portugiesische
Madeira in aller Freundschaft besetzt. Wie immer, wenn John zu einer Sache
einen eigenen Gedanken hatte, der von anderen vielleicht nicht geteilt wurde,
fühlte er Sorge aufsteigen. Aber er dachte: Ich weiß zu wenig Bescheid.
    In Funchal wurden die Nähte der Investigator kalfatert bis oben hin. Nachts schlief man an Land, die Offiziere und
Unteroffiziere in einem Hotel. John lernte, wieviel Flöhe und Wanzen sich an
einem einzigen Ort zur gleichen Zeit versammeln konnten, es war etwas für die
Naturforschung!
    Die Wasserfässer wurden neu gefüllt, und Matthew kaufte Rindfleisch.
Er erklärte seinen Midshipmen, wie man am bläulichen Fleisch eine alte Kuh von
einer jungen unterscheiden konnte. Der Madeirawein war ihm zu teuer. Ein Faß zu
zweiundvierzig Pfund Sterling, das war Seeräuberei mit anderen Mitteln. Das
mochten die lungenkranken englischen Adligen bezahlen, die hier im
Ochsenschlitten spazierenfuhren und Romane lasen.
    Die Forscher versuchten auf den Pico Ruivo zu steigen, einen hohen
Berg am Rand eines uralten ausgedehnten Vulkankraters. Wegen beträchtlicher
Blasen an den Füßen erreichten sie den Gipfel nicht. Bei der Rückkehr schlug
auch noch ihr Boot voll, und sie waren ihre Käfersammlung los. »Schade!
Interessantere Käfer als auf Madeira gibt es nirgends auf der Welt«,

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