Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
Vom Netzwerk:
Haus in der Keppel Row und sagte:
»Mary Rose ist in Ordnung. Du wirst Spaß haben. Sie ist ein süßes dickes
Mädchen, immer fröhlich. Beim Lachen zieht sie die Nase kraus.« John wartete
draußen vor dem niedrigen Gebäude, während Mockridge drinnen irgend etwas
verhandelte. Die Fenster des Hauses waren entweder blind oder verhangen. Wer
etwas sehen wollte, mußte wohl hineingehen. Da kam schon Mockridge und holte
ihn.
    John fand, daß Mary Rose weder dick war noch die Nase kraus zog. Sie
hatte ein knochiges Gesicht, die Stirn war hoch, alles aus lauter gebogenen
Linien aufgebaut. Irgend etwas an ihr erinnerte an ein Schiff. Sie war ein Mann
des Kriegs von weiblichem Geschlecht. Zunächst schob sie den unteren Teil des
Fensters hoch, um mehr Licht hereinzulassen, und sah John prüfend an. »Bist du
ins Gebüsch gefallen?« fragte sie und deutete auf seinen Kopf und seine Hände.
»Das war kein Gebüsch. Ich war in der Schlacht von Kopenhagen«, antwortete John
beklommen und stockte.
    Â»Und die vier Schillinge hast du?« John nickte. Da sie schwieg, sah
er seine Aufgabe klar vor sich. »Ich werde dich jetzt ausziehen«, sagte er mit
Todesverachtung. Sie sah ihn unter den vielfältig geschwungenen Bögen ihrer
Augenlider, Brauen, Stirnknochen und unter den Buchten ihres Haaransatzes
belustigt an. »So siehst du aus!« sagte sie lächelnd. Ihr weicher Mund konnte
spöttische Sätze ganz freundlich sagen. Jedenfalls war es bis jetzt nicht zum
Davonlaufen.
    Nach einer halben Stunde war John immer noch da. »Mich interessiert
alles, was mir noch unbekannt ist«, sagte er. »Dann faß doch mal hier an –
gefällt dir das?« »Ja, aber bei mir funktioniert alles nicht richtig«, stellte
John etwas mißmutig fest.
    Â»Nicht so wichtig! Kanonen gibt’s genug hier.«
    In diesem Augenblick ging die Tür auf, und ein dicker, großer Mann
stand da mit fragendem Gesicht, er wollte offenbar herein. »Raus!« schrie Mary
Rose. Der Dicke ging. »Das war Jack. Der zum Beispiel ist eine Kanone – im
Fressen und Saufen!« Mary Rose war guter Laune. »Als sein Schiff einmal
festsaß, warfen sie ihn außenbords. Sofort kam der Kiel wieder frei!« Sie
lehnte sich zurück und lachte herzlich mit geschlossenen Augen. So konnte John
ihre runden Knie und Schenkel betrachten und sich überlegen, wie es weiterging.
Aber was nun einmal nicht wollte, war auch dadurch nicht zu bewegen. Er holte
seine Hose vom Stuhl und prüfte, wo oben und unten war. Dann kramte er die vier
Schillinge heraus. »Ja, zahlen mußt du schon«, sagte Mary Rose, »sonst denkst
du noch, du hättest keinen Spaß gehabt!« Sie faßte ihn um den Kopf. Johns
Lippen fühlten ihre Augenbrauen, er spürte die kleinen Härchen. Friedlich und
weich war ihm zumute. Es gab keine Anstrengung und keine Überlegung, denn ihre
Hände waren es, die seinen Kopf hin- und herbewegten. »Du bist ein ernster Junge«,
sagte sie, »und das ist etwas Gutes. Wenn du älter bist, wirst du ein
Gentleman. Laß dich wieder sehen – das nächste Mal funktioniert es, das weiß
ich.« John kramte noch einmal in der Tasche. »Ich habe hier«, begann er, »einen
Schraubschäkel aus Messing.« Er gab ihn ihr zum Geschenk. Sie nahm ihn, sagte
nichts. Zum Abschied sagte sie rauh: »Wenn du hinausgehst, stell dem dicken
Jack ein Bein. Wenn er sich den Hals bricht, hab’ ich den Abend frei!«
    Als John das Schiff betrat, schien Mockridge erstmals beide Augen im
gleichen Winkel auf ihn zu richten. »Wie war’s?« John dachte nach, faßte einen
Entschluß und hielt sich daran. »Ich bin verliebt«, sagte er. »Ich war nur anfangs
etwas kleinmütig wegen der Knöpfe.« Er log ja nicht. Noch lange dachte er an
den angenehmen Geruch ihrer Haut. Und es blieb die Hoffnung, daß die
Langsamkeit der Frauen etwas mit der seinen zu tun hätte.
    Am Unterwasserschiff keinerlei Schäden. Matthew hatte nun
auch seinen Paß für die Investigator und, trotz des Mißgeschicks von Dungeness,
den Segen der Marinebehörde. Ein weiterer Forscher, Dr. Brown, und der
langerwartete Segelmeister Thistle hatten sich an Bord eingefunden, die
Mannschaft war vollständig. Matthew ließ den Anker lichten.
    Nach vier Tagen trafen sie auf die Kanalflotte – kein angenehmer
Anblick. Da lagen wieder die

Weitere Kostenlose Bücher