Die Entdeckung der Langsamkeit
Unendlichkeit
zu einem rechten Winkel. Ganz ohne Zähne hatte er das behauptet und war dann
gleich gestorben â Skorbut. John erinnerte sich auch an Burnaby, wie der über
Gleichheit gesprochen hatte, lächelnd, mit weit geöffneten Augen und dabei oft
so wirr. Vorsicht konnte nicht schaden.
»Von jetzt an werde ich alle Fragen stellen, die überhaupt nur
möglich sind«, sagte Westall. »Wer sich weigert zu fragen, macht eines Tages
nichts mehr richtig, von der Malerei ganz zu schweigen!« Er fing gleich damit
an: »Wir glauben zum Beispiel zu wissen, was in der Welt das Bleibende und was
das Veränderliche sei. Nichts wissen wir! In unseren besten Momenten ahnen wir
das. Und gute Bilder enthalten diese Ahnung.«
John nickte und blickte auf die riesige Wasserstadt aus Dschunken
und Plattformen. Er horchte in sich hinein, ob er den Satz wohl verstanden
habe. Vor seinen Augen bewegten sich Tausende von Menschen und trieben Handel,
hungrige wie reiche. Alles, was John sah, diente dem Geschäft: Mattensegel,
Sonnenschirme, Mauern mit geschwärzten Zinnen, floÃähnlich ausladende Kähne und
die langen Stäbe, mit denen man sie an gröÃere Schiffe heranstakte. Tagelang
schon hatte er dem Geschäftsleben zugesehen â Grasmatten gegen Kupfermünzen,
Seide gegen Gold, Lackhölzer oder zarte Dinge aus Glas. Das Wichtigste an
alledem sah man nicht direkt. Es war etwas, das immer da war, und man ahnte es
nicht auf Malerart, sondern wuÃte es aus logischer Ãberlegung: ohne Geduld war
der Handel kein Handel. Ohne Geduld waren Kaufleute nur Räuber, sie war wie die
Hemmung im Uhrwerk.
»Alles Gleichbleibende möchte ich jedenfalls kennen«, sagte John zu
Westall, der keine Antwort erwartet und längst weitergeredet hatte. Mit dem
Gleichbleibenden fühlte John sich verwandt, aber es war schwer zu fassen.
Jetzt kannte er schon so viele verschiedene Plätze, aber er fand in
dieser Vielheit noch keine gröÃere Sicherheit. Zumal immer fraglich war, warum
das Bleibende blieb. Warum hatte ein Vogel Strauà Federn und flog doch nicht?
Warum trug eine Seeschildkröte einen schweren Panzer, von den Fischen aber
nicht ein einziger? Warum wuchsen Hengsten keine Hörner, wohl aber den
Rehböcken? »Es gibt eben keine Sicherheit!« beharrte Westall.
Die Unähnlichkeit der menschlichen Rassen war fast noch beunruhigender,
vor allem weil auch noch Gegensätze aufeinandertrafen in jeder einzelnen.
Australische Leute stützten sich auf Stöcke und blickten langsam. Sie konnten
aber auch blitzschnell Fische aus einem Bach greifen mit bloÃer Hand. Chinesen
hielten ihre Körper in müheloser Spannung ganz aufrecht, sie wirkten so stolz.
Sprach man sie an, dann machten sie viele Verbeugungen hintereinander. Die
Franzosen waren feierlich und begeistert und wollten alles ändern. Sie verwandten
aber unendliche Zeit auf die Zubereitung und den Verzehr ihrer Mahlzeiten. Die
englische Küche verabscheuten sie, selbst wenn sie am Verhungern waren, John
hatte das in Sydney gesehen. Und die Portugiesen: sie rechneten stets mit dem
nächsten Erdbeben und bauten ihre Häuser entsprechend. Aber ihre Kirchen
stellten sie in groÃer Pracht immer dort wieder auf, wo sie eingestürzt waren.
Und die Engländer! Sie waren voller Liebe für ihr Land und fuhren doch gern so
weit wie möglich davon weg. Westall nickte.
»Nichts kann man voraussagen. Niemand kann begründen, warum alles so
und nicht anders geschieht. Stärker als alle Voraussagen sind Zufall und Widerspruch.«
John bewunderte den Maler. Der war doch nur fünf Jahre älter als er
und hatte die Kraft, es mit den Dingen aufzunehmen und zu fragen, ob sie
wirklich so seien. Für ihn, John, kam das nicht in Betracht. Wer viel fragte,
muÃte es schnell tun. Einen Frager suchte jeder möglichst bald wieder
loszuwerden. Ãberdies wuÃte John sehr gut, daà man den Antworten nicht immer
zustimmen konnte. Zur befremdlichen Antwort hatte man dann noch den Unfrieden.
Ãber den Zufall hätte er aber gern mehr gewuÃt, vor allem über den
zufälligen Tod.
Vor seinem Auge lag wieder Denis Lacy, von der GroÃbram gefallen aus
über fünfzig Fuà Höhe mitten auf das Deck. Warum war der Behendeste abgestürzt
und nicht der Langsamste? Warum zu einem Zeitpunkt, als alles überstanden war
und der Rest der Mannschaft auf dem Weg nach Kanton? John
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