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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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sah das schreckliche
Bild wieder genau. Die ganze vielfältige Wasserstadt konnte es nicht überdecken.
Er sah die Blutlache, in der Denis gelegen hatte mit zertrümmertem Schädel. Aus
dem Stoff des Hemdes ragten Knochensplitter wie lange Stacheln, die Brust hob
und senkte sich noch, Schaum quoll aus Mund und Nase, dann hörte das Herz auf
zu schlagen. Um von diesem Bild wegzukommen, dachte John an Stanley Kirkeby,
wie der, und zwar äußerst schmerzhaft, auf der Känguruh-Insel von einem Seehund
in den Hintern gebissen worden war. Auch hier aber: warum geschah so etwas,
warum unterblieb es nicht? Oder der Quartiermeister, der aus dem Boot fiel und
von einer roten Schirmqualle erbärmlich genesselt wurde. Den Ausschlag hatte
man noch wochenlang gesehen. Dabei war es die einzige Qualle weit und breit.
Oder Segelmeister Thistle und Midshipman Taylor, von Haien gefressen, weil ihr
Boot in der Brandung umschlug – warum sie, warum nicht Mr. Colpits, für den das
wenigstens keine Überraschung gewesen wäre? Aber der war nicht
verlorengegangen, im Gegenteil! Der saß jetzt in Sydney, verwaltete auf Befehl
des Gouverneurs ein Warenlager und aß viel und regelmäßig.
    Â»Tabellen müßte man darüber anlegen, wie die Leute leben und
sterben«, sagte John, »eine Geometrie.« Er wußte auch schon, wie. Mit
gleichbleibenden Maßen für alle erdenklichen Geschwindigkeiten. Er dachte unwillkürlich
an die Zeithüter und an Matthew. Der war jetzt auf dem Weg nach England mit den
kostbaren Seekarten, mit der Post und dem Kater Trim. Matthew würde er in
Spilsby wiedersehen. Sherard hingegen war in der Terra australis geblieben, um
zu siedeln und vielleicht einen Hafen zu bauen. Nichts hatte ihn davon abhalten
können.
    Mockridge war tot. Drei Männer waren ertrunken, als die Cato auf der Klippe zerschellte, nur drei, und einer von
ihnen mußte Mockridge sein! Daß die Menschen verschieden waren, konnte man noch
hinnehmen, und daß man die einen gern mochte und die anderen nicht. Aber daß
der Zufall dabei tat, was er wollte, das war bitter. John nahm sich zusammen
und kehrte zum Gespräch mit Westall zurück: »Das mit der Genauigkeit und der
Ahnung muß ich noch überlegen«, sagte er. »Ich kann keine Bilder malen, ich muß
Kapitän werden. Deshalb möchte ich doch lieber so viel kennen wie möglich.«
    Â»Und nun zu dem, was hinter Ihnen liegt, Mr. Franklin»,
sagte Kapitän Dance. »Geben Sie bitte einen zusammenfassenden Bericht!« John
hatte das erwartet. Dance wollte sich ein Bild von ihm machen. Über die Reise
wußte er zweifellos schon alles von Leutnant Fowler. John war vorbereitet. Er
hatte sich überlegt, worauf es bei einer Zusammenfassung ankam.
    Jeder Bericht hatte eine äußere Seite, die logisch zusammenhing und
leicht zu begreifen war, und eine innere, die nur im Kopf des Sprechenden
aufschien. Zu unterdrücken war diese innere nicht, das hätte nur lästiges
Stottern und allerlei Fehler im Ausdruck verursacht. John mußte ihr also Zeit
einräumen, ohne sie nach außen zu wenden. Noch vor wenigen Monaten hatte er
dazu geneigt, den inneren Bildern zuliebe das letzte Wort so lange zu
wiederholen, bis er weitererzählen konnte. Jetzt verstand er es, Pausen zu
machen. Kaltblütig riskierte er, daß dabei der andere ihm ins Wort fiel und
beleidigt war, wenn John sich nicht aufhalten ließ.
    Mit einem gut geübten Satz fing er an. Der enthielt den Namen des
Schiffes und des Kapitäns, die Zahl der Mannschaft und der Kanonen, den Zeitpunkt
des Auslaufens in Sheerness. Von da an: Stichworte, Daten, Positionen, alles in
möglichst gleichförmiger Folge. Was in dieser Weise fixiert war, galt im
allgemeinen als ordentlich berichtet. Bis zur Begegnung der Investigator mit der Géographe – Kapitän Nicolas Baudin, sechsunddreißig
Kanonen – nahm Dance die Denkpausen geduldig hin. Dann aber sagte er:
»Schneller, Mr. Franklin! Was gibt es nachzudenken? Sie waren ja dabei!« Auch
darauf war John vorbereitet.
    Â»Wenn ich erzähle, Sir, brauche ich meinen eigenen Rhythmus.«
    Dance fuhr herum und starrte ihn erstaunt an.
    Â»So etwas habe ich bisher nur einmal gehört. Von einem schottischen
Kirchenältesten. Weiter!«
    John berichtete von der zweijährigen Reise rund um die Terra
australis – oder Australien, wie Matthew der Einfachheit halber

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