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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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nächsten Tag fing der Streit wieder an. Der Kommodore schien
nichts lieber zu tun, als den Künstler in Verwirrung zu stürzen. »Die Angst
malen, die Willkürlichkeit der Sicht? Warum nicht gleich die Blindheit? Sechzig
Jahre Angst und Willkür habe ich hinter mir! Nein, Mr. Westall, der Mensch soll
sich erheben über seine Schwäche durch die Gnade Gottes. Ihr Bruder weiß das.
Denken Sie an ›Esau verlangt Isaaks Segen‹ – das ist ein Bild! Kunst soll
erbauen!«
    Die Earl Camden verließ Whampoa
an der Spitze der Schwadron, fünfzehn schwer beladene Ostindienfahrer hinter
sich. Diese Schiffe waren schwach bewaffnet und nicht so stabil gebaut wie
Kriegsschiffe, vor allem aber schwächer bemannt. Seesoldaten fehlten ganz. Das
Tauwerk war von ungeteertem Manilahanf und schien leicht zu handhaben. Nach
einigen Tagen merkte John, daß es nicht nur am Hanf, sondern auch an der
Mannschaft lag. Die dunkelhäutigen Laskars waren vorzüglich eingeübt, verstanden
schnell und strengten sich an. An Bord waren auch die Frauen einiger Seeleute,
dunkle und weiße. Niemand fand etwas dabei. Ein Indiaman war keine schwimmende
Gefechtsstation. Nur der Rumpf war mit schwarzen und gelben Streifen bemalt, um
das Raubgesindel zu täuschen. Innen war es ein friedliches Schiff. Bald hatte
sich John in Tag- und Nachtarbeit die ganze Schwadron eingeprägt. Er kannte die
Laskars ebenso bei Namen wie die Offiziere. Immer wieder dachte er darüber
nach, wodurch einer ein guter Kapitän war, und ob das auch auf Dance zutraf.
    Wer sollte in der Welt herrschen über die anderen?
    In jedem Fall Leute wie Matthew. Das ließ sich begründen. Nach dem
Schiffbruch zum Beispiel war er so lange auf der Sandbank geblieben, bis er bei
klarem Himmel einen Stern schießen und die Position bestimmen konnte. Drei
volle Tage hatte er bleiben und den Sturm abwarten müssen. John kannte genug
Leute, die längst vorher abgefahren wären. Sie hätten niemals Port Jackson
erreicht, vom Zurückkommen ganz zu schweigen. Vielleicht war Matthew dem
Ursprung nach ein Langsamer, der es bis zum Kapitän gebracht hatte? Wenn
Mockridge recht hatte, dann war Matthew nur deshalb Midshipman geworden, weil
sich die Haushälterin eines Schlachtschiffkommandanten für ihn eingesetzt
hatte. Und hätte Matthew nicht Freunde in der Admiralität gehabt, vor allem
einen gewissen Banks, dann wäre er, nachdem man seine Frau auf der Investigator entdeckt hatte, oder spätestens nach der Strandung
im Kanal des Kommandos enthoben worden.
    Ob einer mit einem morschen Schiff und einer todkranken Mannschaft
einen Kontinent umrunden und dabei immer noch zuverlässige Karten zeichnen
konnte, das entschied sich nicht schon unter den Augen der Admirale an der Küste.
Wer langsam war, der konnte viel, aber er brauchte gute Freunde.
    Was der Kommodore seiner Flotte mitzuteilen hatte, ging
durch Johns Hände, und was zurückkam, lasen seine Augen zuerst. Er kannte
inzwischen alle Flaggen und Kombinationen, ohne nachzudenken. Wenn er hinsah,
dann »blind« – bei Flaggen ging das. Manchmal beobachtete ihn der alte Dance.
Sein Blick schien anerkennend. Er sagte nichts.
    John hatte sich eine Liste mit eigenen Zielen angelegt: Durch
seemännisches Können jeden Hafen erreichen. Unglück verhindern, zum Beispiel
nicht auf eine Küste zutreiben im Sturm. Niemals sich schämen müssen wie
Kapitän Palmer von der Bridgewater. Und an keinem
schlimmen Ausgang schuld sein, nicht den Tod anderer verursachen. Die Liste war
gar nicht so lang.
    Die Schwadron durchfuhr das Südchinesische Meer und näherte sich den
Anamba-Inseln. »Hoffentlich passiert nichts«, sagte Westall eines Abends
unvermittelt und machte sich nicht die Mühe, ausführlich zu werden.
    Â»Segel in Sicht!«
    Die Befürchtungen bestätigten sich: französische Kriegsschiffe. »Sie
haben uns aufgelauert«, raunte Leutnant Fowler. »Wenn ich hier das Kommando
hätte, würde ich jeden Fetzen Stoff geben und den Pulk nach drei Seiten
auseinanderziehen!« »Es wäre die einzige Chance«, meinte ein anderer, »das sind
bestimmt Vierundsiebziger, die rauchen uns in der Pfeife. Wir sollten längst
vor dem Wind sein.« Und ein Jüngerer sagte: »Der Alte ist zu langsam.«
    Wer sollte herrschen in der Welt? Welcher Dritte von drei Menschen
sollte den anderen beiden sagen, was zu tun

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