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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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ihn
hätten wir vielleicht nicht überlebt.«
    Â»Bei welcher Gelegenheit?«
    Â»Als die Investigator schließlich
abgewrackt werden mußte, fuhren wir von Sydney aus mit Porpoise und Cato weiter, liefen aber nach zwei Wochen auf ein
Riff. Wir retteten uns mit einem einzigen Boot und wenigen Vorräten auf eine
schmale Sandbank. Das Festland war gut zweihundert Seemeilen entfernt.«
    Â»Sehr bedauerlich!«
    Â»Als der Kapitän mit dem Boot nach Sydney aufgebrochen war, um Hilfe
zu holen, gaben schon die ersten die Hoffnung auf. Die Sandbank ragte nur wenige
Fuß aus dem Wasser. Die Vorräte waren knapp. Niemand rechnete damit, daß der
Kapitän durchkommen würde. Wir warteten dreiundfünfzig Tage!«
    Â»Und Franklin?«
    Â»Der gab die Hoffnung nicht auf. Wahrscheinlich kann er das gar
nicht. Er schien sich auf Jahre einzurichten. Wir wählten ihn in den
Sandbankrat.«
    Â»Was soll denn das sein?«
    Â»Wir standen dicht vor einer Meuterei. Franklin überzeugte die
Verzweifelten davon, daß man Zeit habe und daß eine langsame Meuterei immer
noch besser sei als eine schnelle. Der Sandbankrat war eine Regierung aller.«
    Â»Klingt sehr französisch. Aber für Sandbänke vielleicht geeignet.
Was hat dieser Franklin denn nun Besonderes geleistet?«
    Â»Er hat bereits in der ersten Minute damit angefangen, Gerüste zum
Hochlagern der Vorräte zu bauen. Als wir nach drei Tagen fertig waren, kam der
Sturm und überflutete die Insel, aber nicht die Gerüste. Weil Franklin so
langsam ist, verliert er niemals Zeit.«
    Â»Gut! Ich werde ihn mir ansehen. Und Sie, Mr. Fowler? Könnten Sie
sich eventuell um das Training der Geschützmannschaften kümmern? Der Friede ist
wieder vorbei. Wir müssen mit französischen Kapern rechnen.«
    Â»Sie würden sich auf ein Gefecht einlassen, Sir?«
    Â»Möglich. Meine Schwadron wird aus sechzehn Schiffen bestehen, und
keines davon ist unbewaffnet. Also?«
    Fowler war der Form nach nur Passagier. Aber er nahm gern eine
Gelegenheit wahr, Napoleon Bonaparte einen Schaden zuzufügen. Er sagte zu.
    Da die Earl Camden erst in
einigen Tagen auslief, saß John Franklin im Hafen von Whampoa neben dem Maler
William Westall untätig auf einer Mauer und beobachtete, was verladen wurde.
Schiffe von über acht Fuß Tiefgang durften nicht flußaufwärts bis nach Kanton.
Sie warteten auf ihre Ladung hier in Whampoa: Kupfer, Tee, Muskat, Zimt,
Baumwolle und mehr. Eben ließ sich der Hafenoffizier aus einem Gewürzsack eine
Stichprobe geben. John hatte gehört, daß hier auch Opium ankam, viele tausend
Kisten im Jahr. Wer Opium rauchte, sah bunte Bilder und dachte nicht an Besserung.
In diesem Sack war aber nur Agar-Agar – eine stangenförmig gepreßte Meeresalge,
die man brauchte, wenn der Saft von englischen Schweinsköpfen zu Sülze gestehen
sollte.
    Was Heimweh war, wußte John jetzt auch.
    In der Frühjahrswärme roch die Mauer, auf der sie saßen, genau so
wie die Grabsteine von St. James in Spilsby.
    Â»Ich habe die falschen Bilder gemalt. So geht es nicht mehr! Man muß
ganz anders malen!« sagte Westall mit scharfer Stirnfalte vor sich hin. »Ich
habe alles nur beschrieben mit aufzählender Genauigkeit – Erdformen,
Pflanzenwuchs, Menschengestalten, genau nach der Natur, zum Wiedererkennen.«
»Das ist doch gut«, meinte John. »Nein, es ist trügerisch. Wir sehen die Welt
nicht wie ein Botaniker, der gleichzeitig Architekt, Arzt, Geologe und Kapitän
ist. Das Kennen geschieht nicht so wie das Sehen, es verträgt sich nicht einmal
allzugut damit, und es ist oft eine schlechtere Methode, um festzustellen, was
es gibt. Ein Maler soll nicht kennen, sondern sehen.«
    Â»Was malt er aber dann?« fragte John nach einer ausführlichen
Überlegung. »Vieles kennt er ja.« Westall antwortete: »Den Eindruck! Das
Fremde, oder wenigstens das Fremde im Vertrauten.«
    John Franklin, der immer freundlich und etwas erstaunt dreinblickte,
war ein idealer Zuhörer für unerbittliche Denker. Daher hörte er manchen Satz,
den sonst niemand hören wollte. Er blieb auch dann neugierig, wenn er nicht
verstanden hatte. Fremde Gedanken erfüllten ihn mit Respekt. Freilich war er
vorsichtig geworden. Gedanken konnten zu weit gehen. Bootsmann Douglas hatte
kurz vor seinem Tod verkündet, alle Parallelen fügten sich in der

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